Der Matarese-Bund
zog dem Mann die Jacke aus und nahm ihm die Schildmütze ab; er setzte sie auf und schnallte sich den Gürtel um die Hüften. Anschließend schleppte er den Bewußtlosen tiefer ins Gehölz, drückte ihm den Kopf gegen den Boden, holte seine eigene Waffe heraus und schmetterte ihm den Kolben hinters Ohr. Er würde stundenlang bewußtlos bleiben.
Wassili kroch wieder zu der Rasenfläche vor dem Haus zurück, stand auf, atmete tief und ging über das Gras. Er hatte den Mann beim Gehen beobachtet – ein etwas schlaksiger Gang, den Kopf hoch erhoben, fast etwas nach hinten gedrückt; diesen Gang imitierte er jetzt. Mit jedem Schritt, den er tat, erwartete er einen Anruf, einen Befehl oder eine Frage; falls das geschah, würde er die Achseln zucken und an den Posten des Mannes zurückkehren. Aber es geschah nichts.
Er erreichte die Einfahrt und damit die Schatten. Fünfzehn Meter weiter vorne strömte Licht aus einer offenen Tür. Eine Frau war zu sehen, die eine Mülltonne öffnete, neben ihr standen zwei Papiersäcke. Wassili ging schneller, er hatte jetzt seine Entscheidung getroffen. Er trat auf die Frau zu; sie trug die weiße Uniform einer Hausangestellten.
»Entschuldigen Sie, ich soll Herrn Veltrup etwas melden.«
»Wer sind Sie denn?« fragte die kräftig gebaute Frau.
»Ich bin neu. Da, lassen Sie sich helfen.« Taleniekov hob die Papiersäcke auf.
»Sie sind neu. Hier heißt es dauernd nur, Helga, machen Sie dies, Helga, machen Sie das. Denen ist das doch egal. Was sollen Sie denn ausrichten. Ich sag's ihm.«
»Ich würde es Ihnen ja gerne sagen. Ich hab' den Alten noch nie gesehen, und hab' auch keine Lust dazu. Aber ich muß es ihm persönlich überbringen.«
»Das sind alles die gleichen Arschlöcher. Vollgefressene Säcke! Aber Sie sehen besser aus als die meisten von denen.«
»Bitte, man hat mir gesagt, ich soll mich beeilen.«
»Alle sollen sich immer beeilen. Jetzt ist es zehn Uhr. Die Frau von dem alten Trottel ist in ihrem Zimmer. Er ist natürlich in seiner Kapelle.«
»Wo…?«
»Oh, schon gut. Kommen Sie rein, ich zeig's Ihnen… Sie sehen wirklich besser aus; höflicher sind Sie auch. Bleiben Sie so.«
Helga führte ihn durch einen Korridor, der an einer Türe endete, die sich in eine weitläufige Eingangshalle öffnete. Hier waren die Wände mit zahlreichen Renaissancegemälden bedeckt, deren Farben versteckte Punktstrahler noch kräftiger hervorhoben. Die Gemälde führten eine weite Freitreppe hinauf, deren Stufen aus italienischem Marmor gehauen waren. Von der Halle führten Seitengänge zu einigen größeren Räumen. Taleniekov konnte in der Kürze der Zeit Heinrich Kassels Beschreibung bestätigt sehen: das Haus war mit Antiquitäten von unschätzbarem Wert angefüllt. Aber viel Zeit hatte er nicht; die Angestellte bog hinter der Treppe um die Ecke. Sie näherten sich einer dicken Mahagonitür mit biblischem Schnitzwerk. Sie öffnete sie, und beide stiegen mit scharlachrotem Teppich bedeckte Treppen hinunter, bis sie eine Art Vorzimmer erreichten, dessen Boden ebenso wie die Freitreppe aus Marmor war. Die Wände waren mit Gobelins behängt, auf denen Szenen aus der christlichen Frühgeschichte abgebildet waren. Zur Linken stand ein alter Kirchenstuhl, dessen Reliefschnitzereien von lang vergessener Kunst kündeten; es war ein Ort der Meditation, denn der Gobelin, der dem Betstuhl gegenüber an der Wand hing, zeigte die Kreuzwegstationen. Am Ende des kleinen Vorraumes führte eine Bogentüre ohne Zweifel zu Walther Veltrups Kapelle.
»Wenn Sie wollen, können Sie stören«, sagte Helga gleichgültig. »Er wird die Schuld ja dem Obersheriff geben, nicht Ihnen. Aber ich würde an Ihrer Stelle ein paar Minuten warten; bis dahin ist der Priester mit seinem Quatsch fertig.«
»Ein Priester?« Das Wort entschlüpfte Wassili; die Anwesenheit eines solchen Mannes war das letzte, was er erwartet hätte. Ein Consigliere der Matarese mit einem Priester?
»Seine bescheuerte Heiligkeit eben.« Helga wandte sich um und schickte sich an, wieder hinaufzugehen. »Tun Sie, was Sie wollen«, sagte sie und zuckte die Achseln. »Ich sag keinem, was er zu tun hat.«
Taleniekov wartete darauf, bis die schwere Mahagonitür oben geschlossen worden war. Dann ging er lautlos auf die Tür der Kapelle zu und drückte sein Ohr gegen das Holz. Er versuchte, in dem Singsang, den er von drinnen hörte, etwas zu verstehen.
Russisch. Die Sprache, in der gesungen wurde, war Russisch!
Er wußte selbst nicht,
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