Der Matarese-Bund
ich das Zimmer sehen? Bitte, darf ich es sehen?«
»O nein, das wäre nicht richtig«, sagte sie. »Es gehört nur ihm. Ich bin die einzige, die Zutritt dazu hat. Sie müssen wissen, er lebt immer noch dort. Mein schöner Joshua.«
»Ich muß das Zimmer sehen, Mrs. Appleton. Wo ist es?« drängte Scofield. Instinkt.
»Warum müssen Sie es sehen?«
»Ich kann Ihnen helfen. Ich kann Ihrem Sohn helfen. Das weiß ich.«
Sie kniff die Augen zusammen und musterte ihn. »Sie sind ein freundlicher Mensch, nicht wahr? Sie sind gar nicht so jung, wie ich dachte. Ihr Gesicht hat Falten und Ihre Schläfen sind schon grau. Sie haben einen kräftigen Mund, hat Ihnen das schon einmal jemand gesagt?«
»Nein, ich glaube nicht, daß das jemand getan hat. Bitte, Mrs. Appleton, ich muß dieses Zimmer sehen. Erlauben Sie es mir.«
»Es ist nett, daß Sie darum bitten. Die Leute bitten mich heute nur noch selten um etwas; sie verlangen einfach. Also gut, helfen Sie mir zu meinem Lift und dann gehen wir ins Obergeschoß. Sie verstehen natürlich, daß wir zuerst anklopfen müssen. Wenn er sagt, daß Sie nicht hinein dürfen, müssen Sie draußen bleiben.«
Scofield führte sie durch das Bogengewölbe des Wohnzimmers zu dem Liftsessel. Er ging neben ihr die Treppe ins Obergeschoß hinauf und half ihr dort, vom Sessel zu steigen.
»Diese Richtung«, sagte sie und deutete auf einen schmalen, dunklen Korridor. »Die letzte Türe rechts.«
Sie erreichten die Türe, standen einen Augenblick davor, dann klopfte die alte Frau leicht gegen das Holz. »Wir werden es gleich wissen«, fuhr sie fort und beugte den Kopf etwas zur Seite, als lauschte sie auf eine Antwort von drinnen. »Es ist gut«, sagte sie und lächelte. »Er hat gesagt, Sie können hereinkommen, aber Sie dürfen nichts anfassen. Er hat alles so zurechtgelegt, wie er es gerne hat.« Sie öffnete die Tür und knipste einen Lichtschalter an der Wand an. Drei Lampen flammten auf, aber es war immer noch nicht sehr hell. Schatten lag über dem Boden und einem Teil der Wände.
Das Zimmer war das eines jungen Mannes. Überall waren die Symbole einer teueren Jugend zu sehen. Die Fahnen über dem Bett und dem Schreibtisch waren von Andover und Princeton, die Trophäen und Pokale auf den Regalen bezogen sich auf Sportarten wie Segeln, Skilauf, Tennis und Lacrosse. Das Zimmer war erhalten worden – auf gespenstische Art erhalten worden –, als hätte es einmal einem Renaissancefürsten gehört. Ein Mikroskop stand neben einem Chemiebaukasten, ein Band der Britannica lag offen da und die Seite war mit bleistiftgeschriebenen Randbemerkungen versehen. Auf dem Nachttisch lagen Romane von Dos Passos und Koestler. Daneben lag die mit Maschine geschriebene Titelseite eines Aufsatzes aus der Feder des gefeierten Bewohners jenes Raumes. Die Überschrift lautete: Hochseesegeln: Vergnügen und Verantwortung. Vorgelegt von Joshua Appleton, Senior. Andover Academy, März 1945. Unter dem Bett standen drei Paar Schuhe: Mokassins, Turnschuhe und schwarze Lackpumps, wie man sie zum Smoking trug. Ein ganzes Leben spiegelte sich in diesem Zimmer wider.
Bray zuckte in dem schwachen Licht zusammen. Er stand im Mausoleum eines Mannes, der noch lebte; die Artefakte eines angehaltenen Lebens versuchten irgendwie, den Toten sicher auf seiner Reise durch die Finsternis zu begleiten. Es war ein makabres Erlebnis, wenn man an Joshua Appleton dachte, den geradezu hypnotisch eindringlich wirkenden Senator aus Massachusetts. Scofield sah zu der alten Frau hinüber. Sie starrte auf eine Gruppe von Fotografien an der Wand. Bray trat einen Schritt vor und sah sie sich an.
Die Bilder zeigten einen jüngeren Joshua Appleton und einige Freunde – offenbar die Mannschaft eines Segelbootes – und das Foto in der Mitte deutete auf den Anlaß. Es zeigte eine lange Fahne, die von vier Männern gehalten wurde, welche auf dem Deck einer Schaluppe standen. Marblehead Regatta – Sommer 1949.
Nur das Foto in der Mitte und die drei darüber zeigten alle vier Mannschaftsmitglieder. Die drei unteren Fotos trugen nur das Bild von zwei der vier. Appleton und ein weiterer junger Mann, beide bis zu den Hüften nackt, schlank, muskulös, sich die Hände schüttelnd; in die Kamera lächelnd, zu beiden Seiten des Mastes stehend, mit Gläsern in der Hand.
Scofield sah sich die beiden Männer näher an und verglich sie dann mit den anderen. Appleton und der eine Mann, der offenbar ein engerer Freund war, strahlten eine Stärke aus,
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