Der Maya-Kalender - die Wahrheit über das größte Rätsel einer Hochkultur
werden würde. Wie nach einer kargen Trockenzeit, wenn die Natur sich wieder auf ihre Eigenschaft des Wachstums besinnt, bedeutete für die Maya jeder neue Morgen eine Erleichterung, weil die Sonne sich aus den Fängen der Unterwelt befreit hatte. Ein neuer Zyklus beginnt, die Zeit schreitet voran – und wiederholt sich.
Auch wenn für Ben wie für die meisten anderen Menschen zu seiner und anderen Zeiten instinktiv der Anbruch eines Tages als dessen Beginn gilt – wann nach der genauen Rechnung der Kalenderpriester der Tag sozusagen amtlich begann, ist unter Fachleuten umstritten. Im Alltagsleben ist das unerheblich, nicht aber bei der aufwändigen Umrechnung von Datumsangaben des Maya-Kalenders in unseren heutigen gregorianischen Kalender, um die Geschichte nachzuzeichnen oder nachzuvollziehen, wie exakt die Maya-Astronomen die Planetenbahnen zu verfolgen in der Lage waren. Die Vermutungen decken alle möglichen Tageszeiten ab – von Sonnenaufgang über Mittagszenit und Sonnenuntergang, gar bis Mitternacht, deren Bestimmung am kompliziertesten gewesen wäre. Anderes lässt vermuten, dass die Maya innerhalb eines Tages vornehmlich zwischen Licht und Dunkel unterschieden – nicht nur im Lauf der Sonne augenfällig, sondern auch der religiösen Auffassung entsprechend. Dann aber wären allein Auf- und Untergang der Sonne wahrscheinliche Zeitpunkte, um den Beginn eines neuen Tages zu markieren. Um die Verwirrung komplett zu machen, halten manche Forscher es für denkbar, dass in den unterschiedlichen Kalendern auch der Tagesbeginn unterschiedlichveranschlagt wurde. Das jedenfalls könnte die eine oder andere kalendarische Unstimmigkeit erklären, die sich aus einigen in moderne Chronologie umgerechneten Datierungen der alten Maya ergeben hat.
Wie auch immer – eine andere Unterteilung des Tages als in Licht und Dunkelheit, also in Tages- oder Nachtabschnitte wie unsere Stunden, die festgelegt sind und irgendwie bezeichnet werden, ist aus der Geschichte der Maya nicht bekannt. Mag sein, dass wie anderswo mit Schatten und ihren Längen hantiert wurde, zumal in dieser Weltgegend zwischen den Wendekreisen die Sonne zu bestimmten Zeiten im Zenit steht und dann ein senkrecht im Boden steckender (kerzengerader) Stock keinerlei Schatten wirft. Zu vermuten ist auch, dass einfache Absprachen etwa so präzisiert wurden: »Wir treffen uns morgen, wenn die Sonne (vom Dorf aus gesehen) zwischen dem großen Kapokbaum neben meiner milpa und dem Gipfel des Berges Jaguarkopf steht.« In den Schriftquellen fehlen solche Hinweise auf genauere Tagesangaben; auch sind keine Apparaturen bekannt, etwa Wasseruhren, wie sie Ägypter oder Chinesen verwandten. Zeitliche Präzision innerhalb eines Tages war für die Maya wohl keine Tugend, wie wir sie kennen. Sie sahen offenbar keine Notwendigkeit, Einheiten zur Messung von Pünktlichkeit und Schnelligkeit festzulegen, jedenfalls ist davon nichts überliefert. Zeit war den Maya nicht die Unterteilung in immer kleinere Einheiten, sondern die Suche nach immer größeren. Alles unterhalb eines Tages war zu vernachlässigen, es kam auf die Tagesbündel und ihre Vielfachen an.
Grundeinheit dieses Zeitverständnisses war der Tag, und der Sonnengott K’inich ajaw eine der höchsten Gottheiten, weshalb und nicht von ungefähr das Wort k’in nicht nur Tag, sondern auch Sonne und ganz allgemein Zeit bedeutet.
Schriftzeichen für das Wort k’in
In seinen verschiedenen Ausformungen verweist das Schriftzeichen auf die universelle Bedeutung der Sonne. Sie gibt nicht nur den Zeittakt, sondern auch die vier Himmelsrichtungen vor, die das Wort für Sonne oder Tag im Namen tragen: Der Westen heißt chik’in , »wo die Sonne verschlungen wird«, mit der Farbe Schwarz für die Nacht, die hereinbricht, sobald die Sonne im Weltenmeer versunken ist und sich in der Unterwelt aufhält. Der Osten heißt lik’in , »wo die Sonne aufgeht«, mit Rot für den Tagesanbruch. Norden und Süden werden »rechts« bzw. »links der Sonne« genannt und sind noch anderen wichtigen Himmelskörpern zugeordnet: Der Norden mit der Farbe Weiß steht für den Mond, der gelbe Süden für die Venus. Auch andere Völker Mesoamerikas drückten in Schriftzeichen und Kalenderdarstellungen die Einheit von Zeit und Raum und den zyklischen Charakter der Zeit aus.
Der sich alltäglich wiederholende Gang der Sonne war maßgeblich, und als Abbild des Lebens mit morgendlicher Geburt und abendlichem Tod gab es für die zugehörige
Weitere Kostenlose Bücher