Der Maya-Kalender - die Wahrheit über das größte Rätsel einer Hochkultur
sind, aber wir wollen annehmen, dass der erste Tempel bereits fertiggestellt ist und die Anlage der schnurgeraden Straße, die von dort nach Süden verläuft, zumindest erkennbar. Auf Besucher wie Bewohner der Stadt wird nicht sonderlich befremdlich wirken, dass vor ein paar Jahren das wenige, das dort gestanden hat, restlos niedergerissen wurde, um auf den Trümmern ganz neu zu bauen. Denn auch dies entspricht der zyklischen Wahrnehmung der Maya und ihrer Vorstellung von einer Abfolge von Schöpfungen, die jeweils aus der Zerstörung der vorangegangenen erwuchsen. Ganz ähnlich wurden bestehende Pyramiden und Tempel über die Jahrhunderte immer wieder überbaut.
Voller Ehrfurcht wird Ben den neuen Tempel bestaunen, dessen Bau gerade abgeschlossen wurde – wie anderthalb Jahrtausende später ein böhmischer Gerstenbauer anlässlich einer Reise nach Prag den prächtigen Veitsdom bewundert haben dürfte −, und sich erinnern, dass dort noch vor wenigen Jahren einfache Fischerhütten standen. Das Ritualspektakel, das sich vor den Augen der Menschen auf der Tempelplattform abspielt, ist im Kern nichts anderes als die bescheidenen Opfer, die Ben an bestimmten Tagen vollzieht, um für das Wohlergehen seiner Familie und eine einträgliche Ernte zu sorgen.
Natürlich ist das königliche Opferritual ungleich prächtiger, zumal ihm für alle Menschen im Machtbereich des Herrschers Bedeutung zukommt. Denn stellvertretend für Ben und andere trittder Gottkönig mit seinen Vorfahren und den Göttern in Verbindung, und dieser direkte Draht steht Leuten wie Ben eben nicht zur Verfügung. Während die Rolle des Familienvaters als desjenigen, der seine Sippe ins Übernatürliche absichert, weit zurückgeht, noch bevor in Mittelamerika feste Siedlungen gegründet wurden, ist der König als oberster Zeremonienmeister vermutlich eine vergleichsweise neue Erfindung und eine Weiterentwicklung der uralten Einrichtung des Schamanen.
Aus der Sicht der Herrschenden in der Welt der alten Maya haben wir dem Bauern Ben entschieden zu viel Platz eingeräumt. Sie würden berechtigterweise einwenden, allzu viel habe Ben von der anspruchsvollen Kalenderwirtschaft seiner Kultur ohnehin nicht verstanden und nicht einmal vernünftig lesen können. Das trifft zweifellos zu: Als Mitglied des »gemeinen Volkes« war Ben nicht in der Lage, Hieroglyphen wirklich lesen zu können. Und für die Feinheiten des Kalenders brauchte er die Hilfe eines Fachmanns, eines Eingeweihten, eines Schamanen oder Kalenderpriesters, der mit nichts anderem beschäftigt war, als die Geheimnisse des Kalenders auszuloten, Berechnungen anzustellen und Menschen wie Ben – für die ein oder andere Kakaobohne Bezahlung, versteht sich – Tipps zu geben, was an welchem Tag zu tun oder zu lassen sei. Auf diese Weise verdienen sich noch heute Kalenderkundige in traditionellen Maya-Siedlungen ein Zubrot.
Das einfache Volk kommt in den überlieferten Texten und Darstellungen der alten Maya nicht vor, denn die historischen Aufzeichnungen ihrer Chronisten künden von den Heldentaten der Mächtigen und den Launen der Götter. Zwar bemühen sich die Forscher nach Kräften, aus archäologischen Funden, allerlei chemischen oder archäobotanischen Untersuchungen und Analogieschlüssen mit vergleichbaren Kulturen zu Aussagen über die Lebensbedingungen des einfachen Volkes zu gelangen, aber dieses mühselige Geschäft wäre bedeutend ergiebiger, wenn es durchErkenntnisse aus zeitgenössischen Schriftquellen ergänzt werden könnte.
Die Gottkönige aber hielten die Macht in Händen, legitimiert durch ihre göttliche Abstammung, ihre Auserwähltheit – und insbesondere durch den Umgang mit der Zeit und der Aufsicht über den Kalender. Die Maya stellen zwar strukturell keinen kalendarischen Sonderfall dar, weil ihr Umgang mit Zeitmessung und Zeitverwaltung wie in anderen Kulturen religiös und politisch geprägt war und der Kalender damit ein Instrument politischer Machtausübung und religiöser Gepflogenheiten. Besonders ist bei ihnen aber, wie ausgeprägt dieser Hauptaspekt zutage tritt – bedingt durch die immense Bedeutung, die der Zeit beigemessen wurde.
Königliches Rendezvous mit Sonne und Venus
Der für uns bedauerlicherweise namenlose Herrscher, der zur Zeit des Stadtausflugs von Bauer Ben über Cerros und ein nicht mehr genau zu bestimmendes Einzugsgebiet regierte, war zuständig für die Kontaktaufnahme mit seinen Vorfahren, die nach Auffassung der Maya nach ihrem Tod
Weitere Kostenlose Bücher