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Der Maya-Kalender - die Wahrheit über das größte Rätsel einer Hochkultur

Titel: Der Maya-Kalender - die Wahrheit über das größte Rätsel einer Hochkultur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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göttlichen Status erlangt hatten, und den anderen großen und kleinen Göttern des Maya-Pantheons. Stellen wir uns vor, dass Ben in der erwartungsvollen Menge, die auf den Beginn der Zeremonie wartet, einen günstigen Platz ergattern konnte. Er steht nah genug, um den König, seine Familie und seine Priester auf der Tempelplattform erkennen zu können, aber auch weit genug entfernt, um den bunten Fassadenschmuck der eindrucksvollen Freitreppe auf sich wirken zu lassen und das Wasser der Bucht direkt dahinter glitzern zu sehen. Fast wie die Erde auf dem Urmeer schwimmt vor seinen gläubigen Augen der Tempel auf dem Wasser. Dieser erste Tempelbau von Cerros ist beileibe nicht der erste Tempel Mittelamerikas, denn solche Bautenerrichteten schon die Olmeken. Neu ist dagegen das künstlerische Konzept, das die Tempelstufen ziert und das Selbstverständnis des Herrschers ausdrückt, der sich, noch vor den Augen der ungeduldigen Zuschauer verborgen, in einer diskreten Kammer auf das Ritual vorbereitet. Vier große, jeweils sechs Meter breite und über zwei Meter hohe Stuckmasken prangen neben den Stufen zur Plattform, und vielleicht weiß Ben, dass es sich um Darstellungen von Sonne und Venus handelt. Vielleicht steht auch zufällig ein Neunmalkluger neben ihm, der ihn darüber aufklärt – Städter zeigten Landeiern vermutlich auch früher schon, dass sie ihre Stadt in- und auswendig kennen. Da die Rückseite des rechteckigen Gebäudes nach Norden ausgerichtet ist, passt die Darstellung der rechten untersten Stuckmaske zur östlichen Position – der Fries an der Freitreppe zeigt die aufgehende Sonne, für Ben durchaus erkennbar an dem Sonnenzeichen, das häufig zu sehen ist und wie das Wort k’in gleichzeitig den Lichtspender und den Tag meint, der sich ihm verdankt. Die korrespondierende Stuckmaske links oder westlich der Stufe zeigt ebenfalls die Sonne, aber auf dem abendlichen Weg zu ihrer nächtlichen Reise durch die Unterwelt Xibalba . Über diesen zwei Darstellungen von Sonnenauf- und -untergang sind hinter einer Zwischenplattform zwei weitere zu sehen, diesmal Abbildungen der Venus – links, über der untergehenden Sonne, als Abendstern, auf der gegenüberliegenden Seite als Morgenstern.
    In dieser Kulisse, auf den Stufen der gewaltigen Freitreppe, wird das öffentliche Ritual stattfinden, das der König als politischer und geistlicher Führer seines kleinen Stadtstaates vor aller Augen vollzieht. Verschiedene Anlässe dafür wären denkbar, eine Geburt oder ein Todesfall im Königshaus, ein Sieg über einen Kriegsgegner, eine Krönung oder die Initiation eines herangewachsenen Prinzen – in jedem Fall für einen Tag anberaumt, den die Kalenderpriester für günstig befunden haben. Was auch immer der Anlassgewesen sein könnte: Ein k’atun -Ende kommt nicht infrage, weil wir uns mitten in einem Zyklus befinden. Das nächste steht erst in 2496 oder 6.4.16 Tagen an, lässt also noch fast sieben Jahre auf sich warten. Für die meisten Anwesenden dürfte trotzdem feststehen, dass sie spätestens an diesem Tag wieder hier stehen werden, sofern es ihnen möglich ist.
    Im heutigen Belize kann man diesen Tempel noch immer bewundern – ramponiert zwar, aber gleichwohl nicht zuletzt aufgrund der Lage unmittelbar am Meer und der ein wenig disproportionierten riesigen Freitreppe noch immer höchst eindrucksvoll. Die Maya-Forscher Linda Schele und David Freidel haben akribisch rekonstruiert, was sich dort abgespielt haben muss: Während die Menge vor dem Tempel auf den Beginn des Spektakels wartet, bereitet sich der König im Inneren auf seinen Auftritt vor. Von dort nimmt er denselben Weg wie die Sonne, entgegen dem Uhrzeigersinn in einem großen Bogen von Ost nach West, bevor er im Tempeleingang auftaucht. Zuvor hat er in seinem verschwiegenen Gemach das Blutritual vollzogen, indem er sich mit einem Rochenstachel Blut abzapfte, vermutlich auf besonders schmerzhafte Weise das besonders kostbare vom eigenen Penis. Vielleicht halfen vorangegangene Fastentage sowie Substanzen, den infolge des Blutverlustes eintretenden Trancezustand noch zu verstärken; sicherlich trugen eine religiöse Hochstimmung und der verinnerlichte Status der Auserwähltheit dazu bei. Beseelt und entrückt, mutmaßlich gestützt von seinen Priestern, weil Verzückung und Schmerz gar zu groß waren, zeigt sich der König dann seinem Volk, inmitten der Kräfte des Kosmos in Gestalt von Sonne und Venus. Das wähnt sich in dem Bewusstsein, ihr oberster

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