Der Maya-Kalender - die Wahrheit über das größte Rätsel einer Hochkultur
irdischer Vertreter habe Kontakt zur Götterwelt aufgenommen, komme also seiner vornehmsten Aufgabe nach.
Das blaublütige Ritual erfüllte einen doppelten Zweck: Es nährte die Götter und ließ gleichzeitig den König per Trance mitihnen in Verbindung treten. Das erst berechtigte den Herrscher, so erhaben über allem Irdischen zu thronen und von der schweißtreibenden Arbeit seines Volkes zu leben: Kommunikator zu sein zwischen Götter- und Menschenwelt, mithin das Medium, das das Wohlergehen der Menschen sichert, weil es die Götter befriedet, die ihrerseits Regen schicken und Stürme umleiten, die Gesundheit senden und Unbill verhindern. Kein wichtiges Kalenderdatum verstrich ohne die Ausführung des passenden Blutrituals, und vermutlich wurde es ganz besonders inbrünstig ausgeführt, wenn damit drohendes Unheil abgewendet werden sollte, weil der Kalender und seine Hüter Gefahr anzeigten. Dann galt es, das kalendarisch vorbestimmte Unheil durch Ritual und Opfer abzumildern, so weit es in den Kräften der Zuständigen und der Gnade der Götter lag.
Für das vermeintlich friedliebende Volk der Maya galt lange Zeit als ausgemacht, dass ihr Umgang mit der Zeit ausschließlich religiös geprägt war und der Kalender darin mehr oder weniger reiner Selbstzweck und religiös aufgeladen. Demnach wäre das meiste von dem, was wir bereits aus der Geschichte der Zeitrechnung anderer Völker lernen konnten, nicht anwendbar gewesen auf die verschlungenen Kalenderzyklen des mittelamerikanischen Volkes mit seiner manischen Kalenderarithmetik.
Aber die Entzifferung der Maya-Schrift hat an den Tag gebracht, dass die Maya eitle, sich an die Macht klammernde Könige ebenso besaßen wie sie untereinander Kriege führten. Wie die Fürsten anderswo ließen sie ihre Heldentaten aufzeichnen, gelegentlich prahlerisch und häufig das Negative auslassend, und versetzten sie in Stimmigkeit mit der heiligen Zeit, indem sie Bezüge zu anderen Ereignissen und ihren Kalenderdaten herstellten. Dazu diente ihnen ihr komplexes Kalenderwesen.
Verbunden mit einem Paradigmenwandel – nämlich die Hochkulturder Maya nicht mehr als kalenderfrommes Priestervolk anzusehen, sondern als Staatengebilde der historischen Frühzeit wie andere auch und ausgestattet mit Besonderheiten ebenso wie mit übergreifenden, auch in anderen frühen Kulturen nachweisbaren Eigenschaften – erfahren die Erkenntnisse über die Bedeutung des Kalenders eine Überprüfung. Dieser Prozess ist ebenso wenig abgeschlossen wie die Erforschung der Maya-Geschichte insgesamt; diese ist noch in vollem Gang, denn die Quellenbasis kann durch Neufunde und weitere Entzifferungen stetig verbreitert werden.
Darüber, dass die Gottkönige der Maya sich auf die Religion beriefen, um ihre Macht zu legitimieren, herrscht bei den Mayanisten aller Forschungsrichtungen Einigkeit. Die US-amerikanische Anthropologin Prudence Rice geht aber noch weiter und befindet, die eigentliche Machtgrundlage der Herrscher sei der Zugriff auf die heilige Zeit mittels der Kontrolle über den Kalender und seine Anwendung und Interpretation gewesen. Im Kern habe ihre Vorrangstellung nicht auf wirtschaftlicher Stärke oder ihren militärischen Fähigkeiten basiert, auch nicht hauptsächlich auf ihrer beanspruchten Verwandtschaft mit den Göttern. Wenn das zutrifft, dann hätte die Maya-Forschung einen wichtigen Schritt nur unvollständig getan: Zwar steht gemeinhin außer Frage, dass die Maya zeit- und kalenderbesessen waren – die Überreste ihrer Hochkultur lassen gar keinen anderen Schluss zu −, doch die Kontrolle über die Zeit als Herzstück aller Herrschaft anzusehen, dem alles andere erst nachfolgte, so weit war man in der Einschätzung bislang nicht gegangen. Prudence Rice macht diesen Schritt und sagt, die Zeit, wie die Maya sie wahrnahmen, sei nicht nur ein Abbild der kosmischen Ordnung, sondern kosmische Grundlage für die menschliche Ordnung und die Rechtfertigung von politischer Macht gewesen: »Die Zeit selbst war der göttliche Herrscher; die Menschen jedoch nichts weiter als ihre sterblichen und weltlichenHüter.« Sie liest das Popol Vuh sogar als eine Allegorie über die Entwicklung von Tzolk’in und Haab .
In der Tat: Der Gottkönig als stolzer Abkömmling der Sonne brauchte und nutzte die religiösen Zeitvorstellungen und ihren Niederschlag in Form der stets präsenten Kalenderwirtschaft als Machtbasis. Dass Zeitrechnung und Kalender Herrschaftsinstrumente sind, haben wir bereits an
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