Der Maya-Kalender - die Wahrheit über das größte Rätsel einer Hochkultur
oder man retuschierte die Bezugsdaten ein wenig, wie man für dynastische Beurkundungen in Stein oder Stuck ja ebenfalls verfuhr, wenn es nottat.
Das dramatischste Beispiel für die kriegerische Bedeutung der Venus liefert die Geschichte der Stadt Tikal, deren Auf und Ab im Mächteringen des Maya-Tieflandes wir bereits verfolgt haben.Als die Archäologen feststellten, dass der sorgsam und regelmäßig unterhaltene Stelenkult zu wichtigen Kalenderfeiern Mitte des 6. Jahrhunderts für anderthalb Jahrhunderte abreißt, ohne dass zunächst Gründe dafür ersichtlich gewesen wären, begann ein weiteres Rätselraten im Zusammenhang mit der Geschichte der Maya-Klassik. Zwei Entdeckungen halfen bei der Lösung: Zum einen ließ sich nachweisen, dass die Stelen aus der Zeit vor der rätselhaften Lücke regelrecht geschleift worden waren – also absichtlich unleserlich gemacht. Das ließ vermuten, dass in Tikal plötzlich jemand das Sagen hatte, der mit dem Inhalt der Steleninschriften entschieden unzufrieden war oder die Stadt auch nur demütigen wollte, indem er ihre stolz in Stein verewigte Chronik ausradierte, die so entwerteten Stümpfe aber absichtsvoll stehen ließ. Solch rüdes Benehmen zeichnet Besatzer durch alle Zeiten aus. Zum anderen lieferten Ausgrabungen und Entzifferungen in der 1937 von einem Holzfäller im Süden von Belize entdeckten Maya-Stadt Caracol in den 1980er-Jahren Hinweise, mit denen die Lücke im steinernen Geschichtsbuch von Tikal gefüllt werden konnte.
In Caracol nämlich, Bündnispartner Calakmuls im Krieg gegen Tikal, rühmte ein Herrscher namens Kan II. auf einer Ballspielplatzmarkierung die Verdienste seines Vaters und Vorvorgängers Ajaw Te’ K’inich II., der 556 am ersten Militärschlag gegen Tikal beteiligt war. Der zweite folgte sechs Jahre später und machte Tikals Unabhängigkeit vorerst zunichte. Caracols Herrscher lässt die Kunde vom Sieg mit dem Zeichen der Venus versehen, die zu diesem Zeitpunkt tatsächlich am Himmel zu einer Schleife ansetzte. Caracol hatte Tikal in der Rolle des Günstlings der Venus abgelöst, hieß das in der Auslegung der Himmelskundler.
Kan II. setzte im 7. Jahrhundert die militärischen Eroberungszüge seines Vaters fort und machte sich im Gespann mit Calakmul die Stadt Naranjo untertan. Und auch in diesem Fall wird der Standder Venus vermerkt, die zum Zeitpunkt des erfolgreichen Angriffs 626 wie bereits 562 als Morgenstern ihre Rückwärtsschleife vollzog – eine besonders günstige Position, wie die Sterndeuter den Militärs versicherten. Das gleiche Spiel wiederholte sich dreieinhalb Jahre später: Wieder ging es gegen Naranjo, und wieder gab Kriegsgott Venus seinen Segen, diesmal allerdings durch sein Erscheinen als Abendstern. Und wer die Sache mit der Venusgläubigkeit der Krieger noch immer für einen kalendarischen Zufall hält: Auch der folgende Überfall 636 stand, zumindest für Caracol, unter dem guten Stern der Venus, die sich nun wieder als Morgenschöne präsentierte. Als Kan II. gut anderthalb Jahre später sein erstes k’atun -Jubiläum als König feierte, ließ er seinen Ruhm nicht etwa zu Hause prächtig in Stein gemeißelt verewigen, sondern auf der sogenannten Hieroglyphentreppe in der ohnehin zutiefst gedemütigten Stadt Naranjo. Dem entsprach die mutwillige Zerstörung der Stelen in Tikal – beides gleichzeitig weithin sichtbarer Ausdruck, wer Macht über den Kalender hatte bzw. wem die Gunst der Sterne galt, auf denen die Zeitrechnung ebenso beruhte wie die Ordnung als Ganzes.
Diese Art Krieg, von der Venus sanktioniert, tauften die Mayanisten alsbald »Krieg der Sterne«, zumal die Entdeckung in die Hochphase der Star-Wars -Euphorie fiel. (Tikal schaffte es sogar mehrmals auf die Kinoleinwand, sowohl in der Mutter aller Star-Wars -Filme Episode 4 als auch in Moonraker , James Bonds elftem Streich.) Bei den Maya wurde die Orientierung an der Venus zu einem gern kopierten Erfolgsmodell, und auch bei späteren Kriegen zwischen den Maya-Städten der klassischen Zeit finden sich immer wieder Hinweise auf eine passende Venuskonstellation für ein militärisches Unternehmen. So berücksichtigte Naranjo die Informationen seiner Astronomen bezüglich der Venus für Kriegszüge, darunter auch gegen den einstigen Peiniger Caracol, und weitere wichtige Ereignisse wie Regierungsantritte wurden in denAnnalen der Stelen ebenfalls in Beziehung zum Stand der Venus gesetzt, vorzugsweise in Verbindung mit Konjunktionen anderer wichtiger
Weitere Kostenlose Bücher