Der Medicus von Heidelberg
Herauslösen müsse darunter erfolgen. Den zweiten wollte ich von oben ansetzen, am Enddarm entlang.
Ich hielt die Luft an und schnitt ein. Ich tat es nicht besonders geschickt und musste mir mehrmals in Erinnerung rufen, dass die schöne Eva von alledem nichts mehr spüren konnte. Mit dem zweiten Schnitt versuchte ich, die Gebärmutter herauszulösen, was jedoch nicht auf Anhieb gelang. Ich musste weitere Inzisionen vornehmen, am inneren Endpunkt der Vagina, bis ich endlich den gesamten, mit Blut bedeckten Korpus in den Händen hielt.
Ich legte ihn auf den Beistelltisch und blickte Meister Karl an. Seinem Gesichtsausdruck entnahm ich, dass auch er zum ersten Mal eine Gebärmutter
in natura
sah.
»Wir haben es mit einem Hohlkörper zu tun«, sagte ich erklärend und kam mir vor wie ein Dozent. »In ihm wächst der Embryo heran, bis er reif ist und geboren wird. Zumindest theoretisch, denn diese junge Frau war nicht schwanger.«
Meister Karl machte eine Bewegung, der ich entnahm, er wolle, dass ich die Gebärmutter aufschnitt. Ich sagte: »Genau das hatte ich vor. Ich möchte die Höhle in Augenschein nehmen, in der wir alle einmal gesteckt haben, bis wir das Licht der Welt erblickten.«
Meister Karl nickte ernst.
Ich setzte das Skalpell an und schnitt den Hohlkörper der Länge nach auf. Dann spreizte ich die entstandenen Hälften auseinander und – stand da wie vom Donner gerührt.
Das, womit ich keinesfalls gerechnet hatte, war eingetreten. Ein Embryo lag vor mir! Ich brauchte einige Augenblicke, bis meine Erregung abgeklungen war und ich meine Gedanken ordnen konnte. Beim Schnitt musste ich die Eihülle durchtrennt und dem kleinen Leben damit den Todesstoß versetzt haben. Doch lebte der Embryo überhaupt? Ich bedauerte, kein Vergrößerungsglas zur Hand zu haben, und starrte wie gebannt auf das kaum zwei Zoll lange, rosafarbene, an eine zusammengerollte Raupe erinnernde Gebilde.
Es lebte!
Jedenfalls glaubte ich, eine regelmäßige Bewegung wahrgenommen zu haben, die womöglich vom Herzschlag kam, mehr erahnt als gesehen, doch von so großer Wahrscheinlichkeit, dass mir ein Schauer über den Rücken jagte.
Und dann kam die Ernüchterung. Ich hatte im Dienste der Forschung gehandelt, um Wissen zu erwerben und damit Leben zu retten – und ich hatte Leben zerstört. Denn das war sicher: Der kleine Embryo, Evas Kind, war zum Sterben verurteilt. Durch mich.
Andererseits wäre der Winzling ohnehin gestorben, er war viel zu klein, um überleben zu können, hatte einen riesigen Kopf, schwarze, punktgleiche Äuglein und zwei Ärmchen und Beinchen, die eher Stummeln glichen als ausgebildeten Gliedmaßen.
Doch das konnte mich nicht trösten.
Was sollte ich tun?
Meister Karl, der genauso wie ich zu fühlen schien, nahm mir die Entscheidung ab. Mit einer für seine großen Hände unendlich zarten Bewegung klappte er die Gebärmutter wieder zusammen. Und ich begriff. Der kleine Embryo sollte in seiner gewohnten, warmen Umgebung sterben. Ganz so, wie es ohnehin gekommen wäre.
»Das ist recht, Meister Karl«, sagte ich und kämpfte plötzlich mit den Tränen. »Legt die Gebärmutter wieder an ihren angestammten Platz und schließt den Leichnam. Dann will ich für uns beide ein Gebet sprechen.«
Meister Karl gehorchte. Wir legten die Hände aneinander, und ich sprach Jesu Worte aus dem Johannes-Evangelium:
»Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubet, der wird leben, ob er gleich stürbe. Und wer da lebet und glaubet an mich, der wird nimmermehr sterben …«
Ich brauchte mehrere Tage, um mein innerliches Gleichgewicht wiederzufinden. Zu sehr hatte mich der Tod des kleinen Embryos durcheinandergebracht. Selbst de Berka, dem ich mich gleich am nächsten Morgen anvertraute, war es schwergefallen, mich zu trösten. »Sieh es so, dass der Winzling einen Teil zur wissenschaftlichen Erkenntnis beitrug«, hatte er gesagt.
»Zu welcher Erkenntnis?«
»Dass die Meinung der alten Ärzte, jede Samenzelle berge in winziger Form bereits den fertigen Embryo, widerlegt ist. Ebenso wie ihre Auffassung, beim Zeugungsakt gelange der Embryo in die Gebärmutter, wo er durch die Nahrung der Mutter heranwachse und schließlich geboren werde.«
»Das leuchtet ein«, hatte ich geantwortet. »Es ist kaum vorstellbar, dass das, was ich gesehen habe, das männliche Glied beim Zeugungsakt verlassen hat. Viel mehr spricht für die Theorie, die ich bei dir gelernt habe, nach der in der Gebärmutter der Samen des
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