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Der Medicus von Heidelberg

Der Medicus von Heidelberg

Titel: Der Medicus von Heidelberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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der Bibliotheca Palatina Platz boten. Die Marktzeit war bereits vorüber, doch es herrschte noch viel Trubel auf dem Gelände. Der Grund dafür war eine Vorrichtung, die man Triller nannte, ein schmaler, runder, vergitterter Käfig, der an einer Art Galgen hing. Ein Missetäter war dazu verurteilt worden, einen Tag lang darin zu stehen und den Hohn, den Spott und die Schadenfreude des Volkes zu ertragen. Kinder machten sich einen Spaß und drehten den Triller immer so, dass sein Gesicht der Menge zugewandt war und auf diese Weise mit Unrat beworfen werden konnte. Dabei taten sich besonders die kleinen Jungen hervor. Einen von ihnen griff ich mir und fragte: »He, willst du dir einen Pfennig verdienen?«
    Der Kleine, ein aufgeweckter Bursche, sah mich mit großen Augen an. »Einen ganzen Pfennig, Herr?«
    »Ja«, sagte ich, wohl wissend, dass die Münze für ihn ein halbes Vermögen darstellte. Aber ich hatte kein kleineres Geld. Der Grund dafür war, dass de Berka mir das Spendengeld des Erfurter Stadtrates Ludek von Selfisch mit den Worten »Du hast es verdient, wer weiß, wofür du es noch brauchen kannst« zugesteckt hatte und sich unter den Geldstücken überwiegend Gold- und Silbermünzen befanden. »Ja«, wiederholte ich. »Aber stell dir den Auftrag, den du dafür erledigen sollst, nicht zu einfach vor. Wahrscheinlich kannst du ihn sowieso nicht erfüllen.«
    »Wetten, doch!« Der Kleine schielte begierig auf die Münze. »Gebt mir den Pfennig, und ich will alles tun, was Ihr verlangt.«
    »Kennst du die Prinzessin Odilie?«
    »Die Prinzessin Odilie?« Der Kleine setzte eine wichtige Miene auf. »Klar kenn ich die. Die war doch so lange verschwunden und ist dann wieder aufgetaucht. Die halbe Stadt hat drüber geredet.«
    »Gut, weißt du, was das ist?« Ich hielt ihm die Pomeranze vor die Nase.
    »Nee.«
    »Das ist eine Pomeranze. Eine Frucht aus dem Pomeranzenwald im Schloss. Sie gehört der Prinzessin Odilie. Sie hat sie schon vermisst. Kannst du ihr sie wiederbringen?«
    Der Kleine war nicht dumm. Er sah mich abschätzend an und fragte: »Warum bringt Ihr sie nicht selbst zurück, Herr?«
    »Das ist ein Geheimnis, das keiner wissen darf. Aber wahrscheinlich fragst du nur, weil du es nicht schaffst, unerkannt ins Schloss zu kommen.«
    »Pah! Natürlich schaff ich das! Ich kenn ’ne Stelle, die keiner kennt. Da komm ich durch die Mauer.«
    »Wenn du dir das wirklich zutraust …«
    »Das tu ich! Gebt Ihr mir nun den Pfennig?«
    »Erst gebe ich dir die Pomeranze. Verwahre sie gut. Niemand darf sie entdecken, niemand in ihren Besitz kommen. Nur die Prinzessin. Du musst sie also finden. Am besten, du suchst den Pomeranzenwald im Schloss. Dort hält sie sich häufig auf. Gib ihr die Pomeranze, wenn sie allein ist. Nur, wenn sie allein ist, hörst du? Mehr musst du nicht machen.«
    »Soll ich nichts ausrichten, Herr?«
    Ich zögerte. Die Gefährlichkeit meines Handelns wurde mir plötzlich bewusst. Wenn etwas schiefging, würde der Kleine mich jederzeit wiedererkennen. Andererseits war er nur der Junge armer Leute, dessen Wort nichts gelten würde, wenn es gegen das meine stand. Ich konnte unser Gespräch jederzeit abstreiten. Und ich konnte leugnen, jemals etwas so Ungewöhnliches wie eine Pomeranze besessen zu haben. »Nein, du brauchst der Prinzessin nichts zu sagen. Aber du musst so lange versuchen, sie zu treffen, bis es dir gelingt.«
    »Ja, Herr, mein Ehrenwort.«
    Ich gab ihm den Pfennig. »Erst dann hast du ihn dir wirklich verdient.«
    »Ja, Herr!«, rief der Kleine noch einmal, umschloss mit seinen kleinen Fäusten den Pfennig und die Pomeranze und lief davon.
    Der Triller mit dem Missetäter darin hatte für ihn seinen Reiz verloren.
     
    Professor Hermann Koutenbruer hielt seine Vorlesungen in einer Art, an die ich mich erst gewöhnen musste. Im Gegensatz zu meinem Freund Justus Rating de Berka, der während seiner Rede emsig auf und ab ging, saß Koutenbruer die ganze Zeit auf einem erhöhten Stuhl und sprach mit langsamer, eintöniger Stimme. An diesem Tag galten seine Ausführungen den
Heidelberger Pharmakopöen,
zwei umfangreichen Verzeichnissen der amtlichen Arzneimittel mit den dazugehörigen Vorschriften über ihre Zubereitung, Beschaffenheit und Anwendung. Ein ermüdender Stoff, der kaum anregender wurde, als er ein Rezept verlas, das zwei Frauen, die zuvor nicht schwanger werden konnten, zu Kindersegen verholfen hatte. Es lautete:
    »Man verordne ein Bad mit Heiternessel,
    Beifuß, Kamille

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