Der Medicus von Heidelberg
Umstände in meinem Leben. Einerlei, ob in Basel oder Erfurt, stets bestimmte ein Lehrplan meinen Tagesablauf, stets war ich jemandem über irgendetwas Rechenschaft schuldig. Du siehst also, wir haben durchaus etwas gemeinsam.«
»Erzähle mir von Erfurt, mein Liebster.«
Was sollte ich erzählen? Wie die Intrigen eines Anselmus Engelhuss mich fast das Studium gekostet hätten? Wie die Pest Hunderte, ja, Tausende hinweggerafft hatte? Wie ich mit Hinz, Eustachius, Meister Karl und Muhme Lenchen einen einsamen Kampf gegen die Seuche ausfocht und mir die Kranken dennoch unter den Händen weggestorben waren – alle außer meinem Freund de Berka?
»Ich habe mit einigen Kommilitonen einen losen Bund von Humanisten gegründet«, sagte ich stattdessen. »Wir nannten uns
Humanistae Hieranae
und waren ein Haufen junger, recht eigenwilliger Männer.«
»Erzähle mir von den jungen, eigenwilligen Männern.«
Ich erklärte zunächst, was einen Humanisten ausmachte, denn ich nahm an, dass Odilie das nicht genau wusste, obwohl ihr Vater sich zu ebendiesen Denkern zählte. Dann schilderte ich die besonderen Eigenschaften von Ulrich von Hutten, dem streitlustigen Rittersohn, von Barward Tafelmaker, dem Mathematicus und Beschwörer der Null und des Nichts, von Tilman von Prüm, dem Rezitator des Ovid, von Eobanus Koch, dem Poeticus, der auf Lateinisch träumen wollte, und von Martin Luther, dem ernsten jungen Mann, in dessen Brust zwei Temperamente wohnten. Von Luther erzählte ich am meisten, auch deshalb, weil Odilie fragte, was man unter Temperamenten zu verstehen habe. Ich erklärte ihr, dass es vier davon gebe: den Sanguiniker, den Phlegmatiker, den Melancholiker und den Choleriker. Um zu zeigen, wie die Temperamente sich auf den Menschen auswirkten, diene am besten das Beispiel von dem großen Stein, der dem Wanderer den Weg versperrt. Der Sanguiniker würde heiter auf das Hindernis reagieren und es einfach überklettern; der Phlegmatiker würde sich nicht damit auseinandersetzen wollen und es umgehen; der Melancholiker würde bei seinem Anblick die Reise in Frage stellen; und der Choleriker würde angesichts des Steins in Verdruss geraten und voller Wut dagegentreten.
»Luther«, fuhr ich fort, »war einerseits Sanguiniker, andererseits Melancholiker. Wenn der Trübsinn ihn übermannte, konnte er stundenlang im Bett liegen und gegen die Decke starren, war er jedoch heiter, konnte er die ganze Burse mit seiner Laute unterhalten. Er ging vor zwei Jahren ins Kloster. Wie es scheint, hat er dort seine Erfüllung gefunden. Er schrieb mir, er sei am vierten April zum Priester geweiht worden.«
Odilie sagte: »Ein gottesfürchtiger Mann, der fröhliche Lieder zur Laute singt? Das klingt seltsam.«
»Luther ist ein seltsamer Mann, anders als alle anderen, die ich bisher kennengelernt habe.«
»Welche Lieder hat er denn gespielt? Vielleicht kenne ich eines?«
Ich zählte die Lieder auf, die wir mit Luther gesungen hatten, und meine Prinzessin kannte kein einziges davon. Aber der Text des Liedes vom Gretlein und Hänslein gefiel ihr gut, und nachdem ich ihr die Melodie ein paarmal vorgesungen hatte, sangen wir gemeinsam aus voller Brust:
»Nun schürz dich, Gretlein, schürz dich,
wohl auf mit mir davon,
das Korn ist abgeschnitten,
der Wein ist eingetan.
Ach, Hänslein, liebes Hänslein,
so lass mich bei dir sein,
die Wochen auf dem Felde,
den Feiertag beim Wein …«
Genauso, wie Luther es getan hatte, erfanden auch wir eine Reihe weiterer Verse, und es zeigte sich, dass meine Prinzessin viel besser reimen konnte als ich. Wir konnten zusammen singen und lachen, reden und schweigen. Wir spielten zusammen närrische Spiele, wie nur Verliebte sie erfinden können. Und wir waren einander so nahe, dass wir oft die Gedanken des anderen errieten.
So verging der zweite Tag.
Am dritten sagte meine Prinzessin zu mir: »Wir sind erst drei Tage auf der Insel, und der ganze Rest des Monats liegt noch vor uns. Ich bin so glücklich.«
»Ich bin auch glücklich«, antwortete ich zärtlich. Insgeheim aber wusste ich, dass eine schöne Zeit wie Wasser zerrinnt.
Am sechsten Tag hätte Fischel uns fast überrascht. »Lukas, Odilie!«, rief er fröhlich. »Ich habe Speise und Trank dabei, denn nur von Luft und Liebe kann niemand leben. Auch ihr nicht.«
Wir richteten uns hastig her und empfingen ihn vor unserer Hütte.
Fischel präsentierte stolz die mitgebrachten Dinge und sagte: »Das Brot und das Salzfleisch könnt ihr
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