Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Medicus von Saragossa

Titel: Der Medicus von Saragossa Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Gordon
Vom Netzwerk:
gibt«, sagte er und öffnete mit geradem, sicherem Schnitt die Leiche auf dem Tisch vom Brustbein bis zur Scham.
    »Sowohl dunkle wie helle Haut und das Fleisch darunter enthalten verschiedene Arten von Drüsen, die grundlegend sind für die körperlichen Prozesse.«
    Jona hielt den Atem an und wandte den Kopf von dem Verwesungsgestank ab. »Ich weiß, was Ihr empfindet«, sagte Nuño, »weil ich dasselbe empfunden habe, als ich Montesa dies das erste Mal tun sah.«
    Er arbeitete mit großem Geschick. »Ich bin ein einfacher Arzt und kein Priester oder Teufel. Ich weiß nicht, was mit der Seele geschieht. Aber eins weiß ich sicher: daß sie nicht hier in diesem Haus des Fleisches bleibt, in diesem Haus, das gleich nach dem Ableben danach trachtet, sich in Erde zu verwandeln.«
    Er erzählte Jona, was er über die Organe wußte, die er der Leiche entnahm, und wies ihn an, ihre Größe und ihr Gewicht in ein ledergebundenes Buch einzutragen.
    »Das ist die Leber. Die Nährstoffversorgung des Körpers hängt von ihr ab. Ich glaube, sie ist auch der Ort, wo das Blut entsteht... Das ist die Milz... und das ist die Gallenblase, die das Temperament bestimmt.«
    Das Herz... Als es herausgenommen war, hielt Jona das Herz eines Menschen in der Hand.
    »Das Herz zieht das Blut an sich und verteilt es wieder im Körper. Das Wesen des Blutes ist verwirrend, offensichtlich aber ist, daß das Herz Leben gibt. Ohne Herz wäre der Mensch eine Pflanze.« Nuño zeigte ihm, daß es gebaut war wie ein Haus mit vier Kammern. »In einer dieser Kammern dürfte mein Untergang begründet liegen. Ich glaube, Gott hat, als er mich schuf, hier einen Fehler gemacht. Es kann aber auch sein, daß die Ursache in den Flügeln der Lunge liegt.«
    »Ist es denn sehr schlimm für Euch?« Jona konnte nicht anders, als diese Frage zu stellen.
    »Manchmal ist es schlimm. Schwierigkeiten beim Atmen, das kommt und geht.«
    Nuño zeigte ihm, wie die Knochen, Bänder und Sehnen den Körper stützten und schützten. Er sägte die Schädeldecke des dünnen Mannes auf und zeigte Jona das Gehirn und dessen Verbindungen zum Rückenmark und bestimmten Nerven.
    Es war noch dunkel, als er alle Organe in die Körperhöhle zurücklegte und die Schnitte mit der Genauigkeit einer Näherin verschloß. Dann wurde der Leichnam in sein Tuch eingewickelt, und die beiden Männer führten den Esel wieder den Hügel hoch.
    Jona schaufelte dem dünnen Mann nun ein tieferes Grab, und die beiden erwiesen ihm die letzte Ehre eines christlichen und eines jüdischen Gebets. Als das Tageslicht über den Hügeln heraufzog, lagen sie beide bereits in ihren Betten.
    In den folgenden Tagen wurde Jona von einer merkwürdigen Unruhe erfaßt. Avicennas Worte: Medizin ist die Erhaltung der Gesundheit und die Heilung von Krankheiten, die aus bekannten Ursachen innerhalb des Körpers entstehen, ließen ihn nicht los. Wenn er jetzt mit Nuño Kranke besuchte, betrachtete er sie mit neuen Augen und sah in jedem das Skelett und die Organe, die er in dem dünnen Mann gesehen hatte.
    Es dauerte eine ganze Woche, bis er den Mut aufbrachte, mit seiner Bitte vor den Arzt zu treten.
    »Ich möchte bei Euch die Heilkunst erlernen.«
    Nuño sah ihn ruhig an. »Ist das ein plötzlicher Wunsch, der wieder verwehen kann wie Nebel im Wind?«
    »Nein, ich habe lange darüber nachgedacht. Ich glaube, Ihr tut Gottes Werk.«
    »Gottes Werk? Dann will ich Euch etwas sagen, Ramón. Oft glaube ich an Gott. Aber manchmal tue ich es nicht.«
    Jona schwieg, denn er wußte nicht, was er sagen sollte.
    »Habt Ihr noch andere Gründe für Eure Bitte?«
    »Ein Medicus hilft sein ganzes Leben lang anderen.«
    »Ach so. Ihr wollt der Menschheit also Gutes tun?«
    Jona hatte das Gefühl, daß Nuño sich über ihn lustig machte, und war verstimmt. »Ja, das möchte ich.«
    »Wißt Ihr, wie lange eine solche Lehrzeit dauert?«
    »Nein.«
    »Vier Jahre. Es wäre Eure dritte Lehre, und ich kann Euch nicht zusichern, daß Ihr sie werdet abschließen können. Ich weiß nicht, ob Gott mir noch vier Jahre gewährt, um sein Werk zu verrichten.«
    Um der Aufrichtigkeit willen rang Jona sich ein weiteres Geständnis ab. »Ich muß irgendwohin gehören. Teil von etwas Gutem sein.«
    Nuño spitzte die Lippen und sah ihn an.
    »Ich würde hart für Euch arbeiten.«
    »Ihr arbeitet schon jetzt hart für mich«, erwiderte Nuño sanft.
    Kurz darauf nickte er. »Nun gut. Wir wollen es versuchen«, sagte er.

Teil VI
Der Medicus von

Weitere Kostenlose Bücher