Der Medicus von Saragossa
fragte, ob ein Arzt das Recht habe, nur jene Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft zu behandeln, die er schätzte oder für die er Achtung oder Zuneigung empfand.
Im Verlauf dieses Tages und des nächsten rang er sich zu dem Eingeständnis durch, daß er in Tembleque noch etwas zu erledigen hatte. Nur indem er Padre Espinas Ruf, der ihm nun wie ein Wink des Schicksals erschien, folgte, konnte er versuchen, Antworten auf die Fragen zu finden, die ihn sein ganzes Leben lang belastet hatten – Fragen nach den Morden, die seine Familie zerstört hatten.
Anfangs bat Adriana ihn, nicht zu gehen. Dann bat sie ihn, er möge sie mitnehmen.
Die Reise selbst konnte schwierig und gefährlich werden, und er hatte keine Ahnung, was er vorfinden würde, wenn er in Toledo eintraf. »Es ist unmöglich«, sagte er sanft.
Es wäre einfacher gewesen, wenn er Zorn in ihren Augen gesehen hätte, denn was er sah, war Furcht. Einige Male war er zu Patienten gerufen worden, die weiter entfernt wohnten, und sie war für zwei oder drei Tage allein gewesen. Aber diesmal würde er viel länger wegbleiben.
»Ich komme zu dir zurück«, sagte er.
Er gab ihr genug Geld für jeden Notfall. »Was ist, wenn ich einfach damit durchbrenne?« fragte sie.
Er führte sie hinters Haus und zeigte ihr die Stelle, wo er die Ledertruhe mit Manuel Fierros Geld vergraben und einen Misthaufen darübergeschichtet hatte. »Wenn du mich je wirklich verlassen willst, kannst du das alles mitnehmen.«
»Das auszugraben wäre mir viel zuviel Arbeit«, erwiderte sie, und er nahm sie in die Arme und küßte und tröstete sie.
Er ging zu Álvaro Saravia, der versprach, Adriana einmal die Woche zu besuchen und dafür zu sorgen, daß neben dem Kamin immer Feuerholz und im Stall Heu für die Pferde vorrätig war. Miguel de Montenegro und Pedro Palma waren zwar nicht gerade begeistert, als Jona sie bat, seine Patienten für längere Zeit mitzuversorgen, aber sie schlugen es ihm nicht ab. »Bei Edelleuten müßt Ihr aufpassen. Sind sie erst einmal geheilt, hauen sie den Arzt übers Ohr«, sagte Montenegro.
Jona beschloß, die lange Reise nicht auf dem grauen Araber anzutreten, weil das Pferd im Alter etwas langsam geworden war. Manuel Fierros schwarze Stute war noch immer kräftig, und er nahm sie statt dessen. Adriana packte eine Satteltasche mit zwei Broten, gebratenem Fleisch, getrockneten Erbsen und einem Säckchen Rosinen. Morgennebel hing noch über dem Land, als er sie küßte und dann schnell aufbrach.
In gemächlichem Trab ritt er nach Südwesten. Diesmal war es keine Lust für seine Zigeunerseele, unbeschwert reisen zu können. Das Gesicht seiner Frau blieb ihm vor Augen, und er hatte den dringenden Wunsch, das Pferd zu wenden und nach Hause zu reiten, aber er tat es nicht.
Er kam gut voran. An diesem Abend schlug er sein Lager hinter einem Windschutz aus Bäumen auf einem braunen Feld ein gutes Stück von Saragossa entfernt auf. »Gut gemacht«, sagte er zu der Stute, als er ihr den Sattel abnahm. »Du bist ein prächtiges Tier, Hermana«, fügte er hinzu und streichelte das schwarze Pferd.
2. In der Burg
N eun Tage später ritt Jona über den roten Lehm der Sagra-Ebene und näherte sich den Mauern Toledos. Schon von weitem sah er die Stadt, scharf und klar auf ihrem hohen Felsen im Licht der Nachmittagssonne. Ein ganzes Leben lag zwischen ihm und dem verängstigten Jungen, der auf einem Esel aus Toledo geflohen war, und doch plagten ihn, als er durch das Bisagra-Tor ritt, düstere Erinnerungen. Er ritt am Sitz der Inquisition vorbei, kenntlich an ihrem steinernen Wappenschild mit Kreuz, Olivenzweig und Schwert. Einst als Junge im Haus seines Vaters hatte er mit angehört, wie David Mendoza Helkias Toledano die Bedeutung dieser Symbole erklärte: »Wenn du das Kreuz annimmst, geben sie dir den Olivenzweig. Wenn du dich weigerst, geben sie dir das Schwert.«
Vor dem Bischofspalast band er sein schwarzes Pferd an. Steif von den langen Tagen im Sattel ging er nach drinnen, wo ein Mönch hinter einem Tisch ihn nach seinem Begehr fragte und ihn auf eine Steinbank wies.
Nach kürzester Zeit erschien strahlend Padre Espina. »Wie schön, Euch wiederzusehen, Senior Callicó.« Er war älter und reifer geworden, und selbstsicherer, als Jona ihn in Erinnerung hatte. Aus ihm schien ein erfahrener Priester geworden zu sein.
Sie setzten sich und redeten. Padre Espina ließ sich von Saragossa erzählen und berichtete kurz über die Freude, die er an seiner
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