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Der Meister

Der Meister

Titel: Der Meister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Hör zu, ich habe total vergessen, dass Mom morgen Geburtstag hat. Wie wär’s, wenn wir ihr zusammen was schenken? Schreib einfach meinen Namen mit auf die Karte. Ich schick dir einen Scheck. Musst mir nur sagen, was du von mir kriegst, okay? Ciao. Ach übrigens, wie geht’s dir denn so?«
    Sie warf ihre Post auf den Tisch und murmelte: »Alles klar, Frankie. Nicht, dass du mir das Geld für das letzte Geschenk schon geschickt hättest.« Jetzt war es sowieso zu spät. Das Geschenk war schon angeliefert worden – ein Set pfirsichfarbener Handtücher mit Angelas Monogramm. Diesmal muss Janie Moms Dank leider ganz allein einstecken. Aber was ändert das schon. Frankie war der Mann mit den tausend Ausreden – und wenn es nach Mom ging, waren sie alle über jeden Zweifel erhaben. Er war Ausbilder bei der Armee in Camp Pendleton, und Angela machte sich ständig Sorgen um ihn, um seine Sicherheit – als ob er dort in der gefährlichen Wildnis von Kalifornien jeden Tag unter feindlichem Beschuss stünde. Sie hatte sogar schon laut darüber nachgedacht, ob ihr Frankie dort auch genug zu essen bekäme. Ja, gewiss doch, Ma. Das US Marine Corps wird dein Zwei-Zentner-Baby ganz bestimmt verhungern lassen. Dabei war es Jane, die seit Mittag nichts mehr gegessen hatte. Bei dieser todpeinlichen Szene am Waschbecken des Autopsiesaals hatte sie auch noch die letzten Reste ihres Mageninhalts von sich gegeben, und jetzt hatte sie einen Bärenhunger.
    Die Plünderung ihres Küchenschranks förderte immerhin noch den bewährten Rettungsanker aller Kochmuffel zu Tage: Thunfisch in Öl, den sie direkt aus der Dose aß, zusammen mit ein paar Salzcrackern. Danach hatte sie immer noch Hunger, und so ging sie zum Schrank zurück und fand noch eine Dose Pfirsiche, die sie ebenfalls verschlang. Während sie den Sirup von der Gabel leckte, betrachtete sie nachdenklich den Stadtplan von Boston an ihrer Wand.
    Das Stony-Brook-Reservat war ein breiter Streifen Grün, flankiert von Schlafstädten – West Roxbury und Clarendon Hills im Norden, Dedham und Readville im Süden. An jedem warmen Sommertag lockte das Naherholungsgebiet Scharen von Joggern und Spaziergängern an; Familien kamen zum Picknick hierher. Wem würde da ein einzelner Mann auffallen, der mit seinem Auto den Enneking Parkway entlangfuhr? Wer würde ihn eines Blickes würdigen, wenn er einen der Parkplätze am Wegrand ansteuerte und dort anhielt, um in den Wald zu starren? Ein Park wie dieser ist ein Magnet für sämtliche Großstädter, die die Nase voll haben von Asphalt und Beton, von Presslufthämmern und Hupkonzerten. Aber unter all den Menschen, die Zuflucht in den kühlen Wäldern und den grünen Wiesen suchten, war einer, dem der Sinn nach etwas ganz anderem stand. Ein Mörder, der eine Stelle zum Abladen seiner Beute suchte. Sie sah die Szenerie mit seinen Augen: die dicht an dicht stehenden Bäume, den Teppich aus trockenem Laub. Eine Welt, in der Insekten und Wild nur darauf warteten, ihm bei der Entsorgung seiner Opfer behilflich zu sein.
    Sie legte die Gabel hin und erschrak selbst über das laute Klappern des Metalls auf der Tischplatte.
    Rizzoli stand auf und nahm die Schachtel mit den farbigen Nadeln aus dem Regal. Sie wählte eine rote Nadel, markierte damit die Straße in Newton, wo Gail Yeager gewohnt hatte, und steckte eine weitere an die Stelle im Park, wo Gails Leiche gefunden worden war. Anschließend markierte sie mit einer blauen Nadel den Fundort der zweiten Frauenleiche in Stony Brook. Dann setzte sie sich wieder hin und dachte über die Geographie der Welt nach, in der sich der unbekannte Täter bewegte.
    Während der Mordserie des Chirurgen hatte sie gelernt, eine Stadt so zu betrachten, wie ein Räuber seine Jagdgründe betrachtet. Sie war schließlich auch eine Jägerin, und um ihre Beute fangen zu können, musste sie das Universum begreifen, in dem der Täter lebte – die Straßen, die er entlangging, die Viertel, die er durchstreifte. Sie wusste, dass Raubtiere in Menschengestalt zumeist in Gegenden »jagten«, die ihnen vertraut waren. Wie alle anderen Menschen hatten auch sie bestimmte Zonen, in denen sie sich zu Hause fühlten, und ihre gewohnten alltäglichen Abläufe. Wenn sie sich die Nadeln auf diesem Stadtplan anschaute, sah sie also mehr als nur die Tatorte von Verbrechen und die Fundorte von Leichen. Sie sah den Aktionsradius des Täters.
    Newton war ein schicker und teurer Vorort, ein Ärzte- und Akademikerviertel. Der Stony Brook

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