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Der Meister

Der Meister

Titel: Der Meister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Park lag fünf Kilometer südöstlich davon, in einer längst nicht so noblen Gegend. Wohnte der Täter in einem dieser Viertel? Suchte er seine Opfer unter den Menschen, die seinen Weg kreuzten, wenn er zwischen seiner Wohnung und seiner Arbeitsstelle pendelte? Dann musste es sich um jemanden handeln, der zu dieser Umgebung passte, der nicht als Außenseiter das Misstrauen der Anwohner erweckte. Wenn er in Newton lebte, musste er auch ein Besserverdiener sein, mit den entsprechenden Vorlieben und Hobbys.
    Und den entsprechenden Opfern.
    Das Gitter der Straßen von Boston verschwamm vor ihren müden Augen, aber noch war sie nicht bereit, aufzugeben und zu Bett zu gehen – wie benommen vor Erschöpfung saß sie da, und Hunderte von Details schwirrten ihr im Kopf herum. Sie dachte an frisches Sperma in einer verwesenden Leiche. Sie dachte an eine skelettierte Leiche ohne Namen. An marineblaue Teppichfasern. An einen Mörder, der die Haare seiner früheren Opfer am Tatort zurückließ. An eine Betäubungspistole, ein Jagdmesser, ein zusammengefaltetes Nachthemd.
    Und an Gabriel Dean. Welche Rolle spielte das FBI bei der ganzen Sache?
    Sie ließ den Kopf in die Hände sinken; sie hatte das Gefühl, dass er von der Überfülle an Informationen platzen müsste. Ja, sie hatte die Leitung der Ermittlungen gewollt, hatte sie sogar gefordert, und jetzt stöhnte sie unter der drückenden Bürde dieses Falles. Sie war zu müde zum Denken und zu aufgedreht, um schlafen zu können. Ob sich so ein Nervenzusammenbruch ankündigte? Der Gedanke drängte sich ihr auf, doch sie unterdrückte ihn augenblicklich mit aller Gewalt. Jane Rizzoli würde niemals einen Nervenzusammenbruch erleiden; dafür hatte sie einfach zu viel Rückgrat. In ihrer Laufbahn als Detective hatte sie schon einen Verdächtigen bis auf das Dach eines Hauses verfolgt, hatte Türen eingetreten … und einmal auch in einem dunklen Keller ihrem eigenen Tod ins Auge gesehen.
    Sie hatte einen Menschen getötet.
    Aber bis zu diesem Moment hatte sie noch nie das Gefühl gehabt, so haarscharf vor dem Zusammenbruch zu stehen.
     
    Die Gefängniskrankenschwester fasst mich nicht gerade sanft an, als sie den Stauschlauch um meinen rechten Arm bindet und dabei das Latexband auf meine Haut schnellen lässt wie einen Einmachgummi. Es zwickt mich und zieht an meinen Haaren, aber das ist ihr gleich; in ihren Augen bin ich nur ein Simulant, der sie aus ihrem Feldbett geholt und die normalerweise ruhige Nachtschicht in der Gefängnisklinik unterbrochen hat. Sie ist eine ältere Frau, oder jedenfalls sieht sie so aus, mit ihren verquollenen Augen und den ausgezupften Augenbrauen; ihr Atem riecht nach Schlaf und Zigaretten. Aber sie ist eine Frau – und ich fixiere ihren faltigen, lappigen Hals, während sie sich über meinen Arm beugt, um eine brauchbare Vene zu suchen.
    Ich denke an das, was unter dieser schrumpligen weißen Haut liegt: die Halsschlagader, in der das hellrote Blut pulsiert, und daneben die Drosselvene, durch die das dunklere venöse Blut zum Herzen zurückströmt. Ich bin mit der Anatomie des weiblichen Halses bestens vertraut, und auch den ihren mustere ich mit Interesse, wenngleich er äußerlich nicht sehr attraktiv ist.
    Meine Ellenbeugenvene ist hervorgetreten, was ihr ein zufriedenes Grunzen entlockt. Sie packt einen Alkoholtupfer aus und wischt damit über meine Haut. Es ist eine achtlose, schludrige Geste, nicht das, was man von einer medizinischen Fachkraft erwarten würde; eine reine Routinehandlung.
    » Jetzt piekst es gleich « , kündigt sie an.
    Ich registriere den Stich der Nadel, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie hat die Vene sauber getroffen, und das Blut strömt in das Vacutainer-Röhrchen mit dem roten Deckel. Ich habe schon mit dem Blut unzähliger anderer Menschen gearbeitet, aber noch nie mit meinem eigenen, und so betrachte ich es interessiert und stelle fest, dass es die satte, dunkle Farbe von Schwarzkirschen hat.
    Das Röhrchen ist fast voll. Sie zieht es von der Nadel ab und ersetzt es durch ein zweites Röhrchen. Dieses hat einen lila Verschluss, es ist für ein großes Blutbild bestimmt. Als es ebenfalls voll ist, zieht sie die Nadel aus meiner Vene, löst den Stauschlauch mit einem Ruck und drückt einen Wattebausch auf die Einstichstelle.
    » Festhalten « , befiehlt sie.
    Hilflos rassle ich mit der Handschelle an meinem linken Handgelenk, die mit dem Metallrahmen des Klinikbetts verbunden ist. » Ich kann nicht « , sage ich mit

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