Der Memory Code
Gekleidet in ein rosafarbenes Kostüm und Pumps, stand sie vor dem Empfangstresen, offenbar völlig durchnässt und aufgelöst. Ohne weiter nachzudenken hob Josh die stets mitgeführte Kamera ans Auge. Fröstelnd erkannte er im Sucher die Lichtstrahlen, die von Kopf und Schultern der Frau ausgingen. Er hielt den Atem an, fürchtete er doch, die spektrale Erscheinung könne sich selbst bei der geringsten Bewegung auflösen.
Anscheinend spürte die Frau, dass sie beobachtet wurde, denn sie drehte sich um. Josh ließ die Kamera sinken. Und dann begegneten sich beider Blicke.
Das Gefühl währte bloß eine Sekunde. Es war kein Déjà-vu, und diesmal gab es auch keinen Zweifel. Tief im Grunde seines Herzens, so tief, wie es nicht tiefer ging, wusste Josh sogleich, dass sie ihm nicht nur vage vertraut vorkam. Nein, sie mussten sich früher einmal gekannt haben – damals, zu jener anderen Zeit, aus der Joshs Gedächtnis mehr zurückhielt, als es hergeben mochte.
Er trat auf die Dame zu, deren Lippen sich zu einem bestürzten “Oh!” formten – für Josh ein unmissverständliches Zeichen, dass auch sie ihn wiedererkannt hatte.
Sie standen sich gegenüber. Schlagartig verstummte ringsum jeglicher Lärm, selbst das Verkehrsgetöse von draußen. Ihre verweinten Augen blickten ihn erstaunt an. “Kennen wir uns?”, fragte sie schließlich. “Sie kommen mir irgendwie bekannt vor.”
“Nicht, dass ich wüsste …”
“Ach, nein, doch nicht”, winkte sie ab und schüttelte verwirrt den Kopf. “Ich irre mich bestimmt. Ich dachte nur erst …”
Josh überflog ihre feuchte Frisur, den zerknitterten Kostümrock, die von Tränen oder dem Regen verlaufene Wimperntusche. Forschend blickte er hinüber zu Frances, die aber auch nur in einer Geste der Hilflosigkeit die Schultern hob. “Was gibt’s?”, fragte er sie.
“Ich habe der Dame bloß unsere Satzung verdeutlicht. Sie weigert sich aber zu gehen, ehe sie nicht einen Termin bekommt.”
“Schon gut. Ich übernehme das”, sagte er zu Frances und wandte sich wieder der Besucherin zu. “Ich arbeite hier. Mal schauen, was sich da machen lässt. Kommen Sie bitte mit in mein Büro.”
Schweigend folgte sie ihm durch die Atriumstür und dann den Gang entlang. Er musterte sie von der Seite und stellte fest, mit welcher Genauigkeit sie das Ambiente prüfte – die Gemälde, die Kandelaber und Teppiche, als hätten diese etwas an sich, das sie nicht begriff. Ehe er sie danach fragen konnte, brach sie in einen aufgeregten Redeschwall aus.
“Was ist da vorhin bloß in mich gefahren? Mich dermaßen aufzuregen! In Tränen auszubrechen! Es sieht mir eigentlich nicht ähnlich, so aus der Fassung zu geraten. Na ja, in letzter Zeit schon …”, fügte sie verlegen an. “Tut mir leid.”
“Was ist denn passiert?”, fragte Josh, ohne auf ihre Entschuldigung einzugehen.
Während sie die Treppe hinaufstiegen, fuhr sie in ihrer Erklärung fort, wobei sie gleichzeitig ihre Umgebung genau im Auge behielt. “Die Dame am Empfang fragte mich, wie sie mir helfen könnte, und als sie hörte, was ich wollte, da sagte sie, dass man sich hier ausschließlich mit Kindern beschäftigt. Ich sagte, das wäre mir klar und ob ich nicht trotzdem mit jemandem sprechen könnte. Jemand, der mir vielleicht eine andere Beratungsstelle empfehlen kann. Aber Miss Eisblock riet mir nur, es telefonisch zu versuchen, bei einem …” – sie brach ab und überlegte krampfhaft – “bei einem Jack Ryder oder Joe Ryder oder so; der sei dafür zuständig, und da habe ich sie gefragt, ob ich ihn nicht einfach aufsuchen kann.”
Inzwischen auf dem Treppenpodest angelangt, wandte Josh sich nach rechts zu seinem Dienstzimmer. “Hier lang, bitte.”
Im Weitergehen nahm sie ihren Gesprächsfaden wieder auf. “Ihre Rezeptionistin machte mir deutlich, dass ich ohne Termin keine Chance hätte und anrufen sollte. Da bin ich wütend geworden, und sie wies mir die Tür. Ein Wort gab das andere, und dabei bin ich wohl in Tränen ausgebrochen. Wie gesagt, ist sonst gar nicht meine Art. Andererseits bin ich die letzten Wochen unausstehlich. Ach, ich weiß einfach nicht mehr, was ich tun soll.”
Joshs Dienstzimmer befand sich im Erkertürmchen der Villa. Die Besucherin blieb auf der Schwelle stehen, legte den Kopf schräg und starrte ihn an. “Wieso erzähle ich Ihnen das eigentlich alles? Sie sind mir doch völlig fremd! Ich glaube, ich drehe langsam durch.”
Egal, ob er sie kannte oder nicht – ihre
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