Der Memory Code
Buddha, sagen kein Wort und bieten einem kryptische fernöstliche Weisheiten an nach der Devise: Das Wasser wird seine Geheimnisse schon preisgeben, alles zu seiner Zeit. Zu welcher Zeit denn? Zu wessen Zeit?”
Die Frustration, mit der er inzwischen seit sechzehn Monaten Tag für Tag fertig werden musste, brodelte zu dicht unter der Oberfläche. Josh wollte unbedingt Gabriella besuchen. Er war müde und litt unter dem Jetlag. Er war Zeuge zweier Morde geworden, hatte im Gefängnis gesessen, hatte in Gefahr geschwebt oder – wie Malachai nicht müde wurde zu erwähnen – war möglicherweise
nach wie vor
seines Lebens nicht sicher. Und dennoch erinnerte er sich an den Schmerz und das Leid von Menschen, die lange vor seiner, Joshs, Geburt gestorben waren. Wenn überhaupt, so war seine Verwirrung mittlerweile noch stärker als vor seiner Zeit bei der Stiftung. Heute hatte er von Angesicht zu Angesicht einer Frau gegenübergesessen, die allen erkennbaren Anzeichen nach dasselbe erlebte wie er. Und womit speiste er sie ab? Mit nichts als hohlen Phrasen.
“Sie kamen zu uns mit Kenntnissen über uns und dieses Haus, die eigentlich keiner haben konnte. Sie wollten erforschen, was wir erforschen. Sie wollten erfahren, was wir erfahren. Das war Ihre Bitte, und die haben mein Neffe und ich Ihnen gewährt. Als Praktikant, Josh, nicht als Patient. Das ist ein Unterschied. Sie hatten kein Trauma, sie hatten keine Phobie, jedenfalls nicht in lebensbedrohlichem Maße, sodass wir hätten eingreifen müssen. Bei Ihnen waren keine außergewöhnlichen Maßnahmen erforderlich.”
“Aber bei dieser Frau ist es vielleicht so.”
“Was Sie da von uns fordern, haben wir probiert und uns jedes Mal die Finger verbrannt. Zwischen all den Gerichtsverfahren, den Lügnern und dem Gespött haben wir eine Entscheidung getroffen: Wir arbeiten nicht mit Erwachsenen. Und solange Sie bei uns sind, gilt das auch für Sie.”
Er gab keine Antwort.
Cleo, Beryls fünfjährige graue Basenji-Hündin – eine der ältesten anerkannten Terrierrassen, die sich bis ins antike Ägypten zurückverfolgen ließ – kam angetrabt und leckte ihr die Hand. Beryl tätschelte dem Tier den Kopf. “Ich lasse mich nicht gern unter Druck setzen, Josh.”
“Ist mir klar.”
“Und warum tun Sie’s dann?”
“Weil ich glaube, dass diese Besucherin irgendwie mit den Memory Stones in Verbindung steht. Es hat Tote gegeben, Beryl. Drei! Drei Morde – und alles nur wegen dem, was sich nach Ihrer und meiner und Malachais Annahme in dem Grab befand. Wenn wir recht haben, dürfen wir nicht riskieren, dass uns auch nur ein Krümelchen Erkenntnis verloren geht. Dazu gibt es zu viel, was sich uns noch entzieht und was wir unbedingt erfahren müssen.”
“Bedaure. Ich darf unseren Ruf nicht aufs Spiel setzen. Tut mir wirklich leid.”
“Da Sie ja so außerordentlich gut Bescheid wissen, leiden Sie wohl persönlich nicht an Flashbacks, was? Sie und Malachai? Sie kennen diese Hölle nicht und werden sie auch hoffentlich nie am eigenen Leibe erfahren. Anderenfalls wird diese Entscheidung Sie Ihr Leben lang verfolgen. Das schwöre ich Ihnen.”
Nachdem er Malachai eine Nachricht hinterlassen und ihn gebeten hatte, sich um sieben mit ihm in New Haven im Restaurant Town Green zu treffen, verließ Josh das Stiftungsgebäude. Heilfroh, der Phoenix Foundation nach der Auseinandersetzung mit Dr. Talmage einmal den Rücken zu kehren, holte er seinen Mietwagen ab und fuhr zur Stadt hinaus. Er wollte Gabriella unbedingt wiedersehen, auch wenn er nicht recht wusste, warum.
Es regnete wieder, und das Gewitter tobte umso heftiger, je weiter Josh die City hinter sich ließ. Erbarmungslos fegte der Sturm das Laub über die Fahrbahn; auf dem Hutchinson River Parkway und später auf der Interstate 95 herrschte dichter Verkehr. Donner grollte, und flackernde Blitze erhellten den grau-violetten Himmel. Abgebrochene Äste segelten über den Highway. Bis Stamford hatte Josh bereits drei Unfälle gesehen. Dennoch kam er eine halbe Stunde vor der verabredeten Zeit in New Haven an.
Nachdem er zweimal um den Häuserblock kutschiert war, fand er endlich einen freien Parkplatz und hastete quer über den Campushof zu dem Gebäude, in dem Gabriella arbeitete.
Das Universitätsgelände lag quasi verwaist da, teils wegen des Regens, teils aber auch deshalb, weil das Sommersemester zu Ende war und das Herbstsemester noch nicht angefangen hatte. Der düstere Tag ließ die Leere noch unheimlicher
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