Der Memory Code
in sein Fleisch bohrten. Unmengen von Historikern, Sammlern und Klerikern hätten ihm ihr gesamtes Hab und Gut für das geboten, was er da in den Händen hielt, doch für kein Geld der Welt, und wäre das Angebot noch so lukrativ, hätte er diesen Schatz hergegeben.
Konzentrier dich!
, befahl er sich.
Konzentrier dich auf die Steine.
Er wusste, wie man betet, verstand sich auf Meditation. Er wusste, welche Quelle der Kraft es ist, wenn der Mensch sein Denken von allem Nichtigen befreit und das Nichts selbst in den Vordergrund treten lässt. Diese Art Meditation hatte nichts Wundertätiges, nichts Geheiligtes, aber sie übte seit jeher eine rätselhafte, magische Wirkung auf ihn aus. Sie versetzte ihn in einen Zustand der Entrückung und brachte seine Geister zur Ruhe.
Der Vater. Der Sohn. Und der Heilige Geist.
Er musste fast lachen, so perfekt passte die Dreifaltigkeit in diesen Zusammenhang. Aber er konzentrierte sich lieber darauf, sich vollkommen in sich selbst zu versenken.
Zuerst der Akt der Reinigung.
Dann das Nichts.
Verbleibe in der Leere.
Erlebe sie.
Nun lass die Farben ineinander verschwimmen.
Blutrot zerfloss zu Rubinrot, färbte sich dann karmesinrot, nahm noch mehr Dunkelheit auf und wandelte sich zu sattem Violett. Danach das Farbenspiel in umgekehrter Reihenfolge, von Dunkel zu Hell. Aus Lila wurde Lavendelblau, danach Rosé, dann über hellere Töne hin zu Rosarot, dann noch mehr Helligkeit und dann am Ende ein rötlich angehauchtes, blässliches Weiß. Jetzt abermals zurück zu dunkleren Schattierungen: das Rosaweiß zu Zinnoberrot, zerfließend zu einem dunklen Weinrot, übergehend zu einem flammenden Feuerrot, verglimmend zum Glühen des Sonnenuntergangs und schließlich wie eine Fackel orangegelb lodernd.
Im Nu war er tief in der Meditation versunken.
Erkenne dich selbst. Erschaue, wer du warst. Erkenne, wer du warst.
Er wiederholte es.
Erkenne dich selbst. Erschaue, wer du warst. Erkenne, wer du warst.
Bläuliche Schwärze umgab ihn wie ein kalter Nachthimmel. Er tauchte hindurch. Es war jenes Firmament, welches sich über jedem Lande wölbte, zu jedem Zeitalter. Dort harrten die Antworten, das war ihm klar. In den unendlichen Weiten der Galaxie, so fern und doch zum Greifen nah.
Was ist das Geheimnis der Steine?
Nichts wollte sich ihm zeigen. Keine Worte, keine Empfindungen, keine Erkenntnis.
Was ist das Geheimnis der Steine?
Wieder nichts.
Erst öffnete er die Augen, danach die Hände, und die Steine purzelten auf das samtene Tuch. Die Farben funkelten verheißungsvoll, versprachen ihm mehr, als er womöglich je würde erfahren können. Er musste nur handeln.
Er hatte es auf alle möglichen Arten versucht. Nun blieb ihm keine Wahl mehr.
Sein Blick schweifte zum Computerbildschirm, und mit ermatteten Fingern tippte er einen Namen in die Tastatur, überzeugt davon, dass die junge Frau irgendwann im Internet gewesen war und dort ihre digitalen Spuren hinterlassen hatte. In Sekundenschnelle zauberten die unsichtbaren Gewölbe des Wissens die Information herbei, die er benötigte.
Ja! Perfekt. Er hatte seinen Schlüssel. Sie würde ihm Einlass gewähren, und er würde auf einen ganz anderen Schatz stoßen. Auf ein Pfund, mit dem er wuchern konnte: ein Menschenleben im Austausch gegen Auskünfte.
Gegen bloße Worte nur.
Gegen Laute, die aus dem Zusammenhang gerissen keinerlei Sinn ergaben.
Es würde einer Mutter sicher nicht schwerfallen, eine Entscheidung zu treffen.
Oder?
49. KAPITEL
A us der Erkenntnis, dass ich in dieser Welt existiere, glaube ich, dass ich in der einen oder anderen Form ewig existieren werde
.
– Benjamin Franklin –
New York City – Dienstag, 14:00 Uhr
Am nächsten Morgen war ihm Rachel Palmer am Telefon so verzweifelt vorgekommen, dass Josh sich zu einem Treffen mit ihr hatte überreden lassen. Als Treffpunkt hatte sie das Metropolitan Museum vorgeschlagen, genauer gesagt die Galerie in der amerikanischen Kunstabteilung, in der Josh sich immer schon gut ausgekannt und wohlgefühlt hatte. Ein echtes Kind der Großstadt, hatte er im Laufe der Jahre mit seinem Vater Stunde um Stunde im Met zugebracht. Rachels Nervosität indes war deutlich spürbar und nahm dem Wiedersehen mit dem Museum seiner Kindheit jeden Reiz.
“Falls hier jemand lauert und mich beobachtet”, bemerkte sie, während sie durch das sonnendurchflutete Foyer schlenderten, “macht er das ziemlich unauffällig.”
“Wer sollte Sie denn beobachten?”
“Klingt paranoid,
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