Der Memory Code
das Leben zu retten. Auch das eine Lüge. Seine letzte.
Er stemmte sich an der Reling hoch, verzweifelt bemüht, nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Das Schiff wälzte sich nach Steuerbord, dann gleich wieder in Gegenrichtung.
Blackie gelang es, einigermaßen sicheren Stand zu finden und Esme hochzuheben. Da ging ihr auf, was er im Schilde führte. Das Wasser war sicher kalt, aber dafür würde alles schnell vorüber sein. Immer noch klammerte sie sich mit einem Arm an seinem Nacken fest, und jetzt fasste sie auch mit dem anderen zu und zog Blackies Kopf herunter zu ihrem Gesicht, und zwar mit einer Kraft, die sie kurz zuvor noch gar nicht gehabt hatte.
“Einen letzten Kuss noch”, wisperte sie.
Er küsste sie, ob aus Mitleid oder echter Zuneigung oder schlechtem Gewissen, das spielte keine Rolle mehr. Esme brauchte diese letzten Sekunden, um sich noch heftiger an ihm festzuklammern. Dabei entging ihr, dass er diese letzten Momente benötigte, um Esme besser zu packen.
Unter Aufbietung aller Kräfte, gegen das schwankende Deck ankämpfend und um sicheren Stand bemüht, hievte er Esme hoch über die Reling, beugte sich über die Eisenbrüstung und ließ seine Last los.
Ein mächtiger Brecher donnerte gegen den Dampfer. Ein heulender Windstoß überschüttete beide mit einem kalten Schauer aus salzigem Nass. Blackie verlor den Halt, Esme noch immer verzweifelt an seinen Nacken geklammert.
Beide segelten durch die Luft, eng umschlungen und ohne einander loszulassen. Im Tode vereint. So gingen sie über Bord, verschwanden vom Bug des Schiffes in einer Nacht, an deren Anfang die See noch spiegelglatt gewesen war.
62. KAPITEL
N ew York City
–
Donnerstag, 10:50 Uhr
“Sie werden jetzt schlafen, Esme. Wenn Sie aufwachen, werden Sie Rachel sein und sich an das erinnern, was geschehen ist, doch Angst werden Sie keine haben. Ein Teil Ihres Denkens hat diese Geschichte schon immer gekannt. Sie hatten nur keinen bewussten Zugang zu ihr. Nach dem Aufwachen werden Sie einsehen, dass es einiges zu hinterfragen gibt, aber mit Zuversicht werden Sie das Erforderliche anpacken und die Erinnerungen richtig einordnen. Also, Sie werden sich zwar nach dem Schlaf an das entsinnen, was Sie gesehen haben, aber Sie werden sich nicht fürchten. Sie sind nicht Esme. Harrison Shoals ist nicht Blackie.”
Während sie schlief, betrachtete Josh ihr Gesicht, die dunklen, auf den Wangen ruhenden Wimpern, den lippenstiftroten Mund, den sie seit ihrem letzten Wort dicht geschlossen hielt. Die Augen regten sich nicht; zu erkennen war lediglich, wie sich ihre Brust mit jedem Atemzug hob und senkte.
“Rachel …”
Keine Bewegung.
“Rachel … Ich zähle jetzt bis drei. Dann werden Sie aufwachen und sich erfrischt und völlig klar im Kopf fühlen.”
Nervös wartete er ab. Genau davor hatte Beryl Talmage ihn gewarnt: Er hatte Rachel einem neuen Bild ihrer Seele ausgesetzt, und zwar in einem anderen Körper zu einer anderen Zeit. Es lief auf ein hartes Stück Arbeit hinaus, diese beiden unterschiedlichen Charaktere in Einklang zu bringen.
“Eins. Zwei. Drei.”
Rachel schlug die Augen auf und schaute Josh geradewegs an. Ihr hübsches Gesicht wirkte entspannt, umschmeichelt von haselnussbraunen Locken. Nichts hätte vermuten lassen, dass sie in irgendeiner Weise einer seelischen Belastung ausgesetzt war.
“Lassen Sie sich Zeit. Sie haben sich an sehr vieles erinnert.”
Ein Schatten senkte sich über ihre Züge, als habe man plötzlich die Sonne vom Himmel geholt. Ihre Augen bewölkten sich; sie schürzte den Mund, nagte an der Lippenstiftschicht und nestelte an den im Schoß ruhenden Fingern. Sie benötigte höchstens eine halbe Minute, um sich das meiste ins Gedächtnis zu rufen.
“Er hat mich umgebracht, nicht wahr?”, fragte sie.
“Nicht Sie, Rachel. Eine Frau namens Esme.”
“Er hat auf mich geschossen, und ich bin gestorben?”
“Er hat Esme erschossen. Es geschah vor langer Zeit.”
“Und er selber ist dabei ebenfalls zu Tode gekommen, stimmt’s? Ich klammerte mich an ihm fest, und er wälzte mich über die Reling, aber da kriegte das Schiff plötzlich schwere Schlagseite, und weil ich die Arme um Blackies Nacken geschlungen hatte, riss ich ihn mit über Bord.”
“Nicht Sie! Esme!”
“War das der Mann, der jetzt Harrison Shoals ist?”
“Eher nicht. Ebenso wenig, wie Sie Esme sind. Passen Sie auf, ich zeige Ihnen das mal.” Josh nahm einen Kaffeebecher vom Schreibtisch und füllte ihn mit Wasser aus
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