Der Memory Code
christlichen Märtyrerin handelt. Vielleicht sogar um eine Heilige. Wie Sie schon sagten, war sie so gut wie unversehrt.” Schwungvoll wies er auf die Mumie, als wolle er sie mit seinem Wissen beeindrucken. “Die Polizei wird Rücksicht nehmen. Die Spurensicherung kommt gleich runter und erledigt ihre Arbeit, zwar zügig, aber mit der gebotenen Sorgfalt. Zum Glück ist die Fläche relativ klein, was die Sache vereinfacht. Dann können Sie die Ausgrabung versiegeln, bis diese leidige Sache ad acta gelegt ist. Vorausgesetzt, Sie erlauben uns den Zutritt, sofern es sich als nötig erweisen sollte.”
“Selbstverständlich”, betonte sie und neigte kurz den Kopf, als sei ein Gebet erhört worden.
Dann wandte Tatti sich an Josh. “Mr. Ryder, ich muss Sie bitten mitzukommen. Ich hätte noch einige Fragen an Sie, aber das können wir oben erledigen.”
Wieder an der Oberfläche angelangt, führte der Commissario Josh von der freien Fläche weg zu einer Reihe Eichen, die wie Wachposten am Rande eines Gehölzes standen. Den Rücken gegen einen der Baumriesen gelehnt, die hier vermutlich schon gewachsen waren, als das Grab gebaut und Sabina darin eingemauert worden war, zündete Tatti sich eine Zigarette an und ließ sich noch mal den Ablauf des Morgens schildern, angefangen mit Joshs Fußmarsch vom Hotel.
“Ich kaufe Ihnen Ihre Geschichte einfach nicht ab, Mr. Ryder”, sagte er, als Josh geendet hatte. “Sie marschieren vor Sonnenaufgang zehn Kilometer hierher, obwohl Sie am Morgen einen Termin haben? Wieso?”
“Ich konnte nicht schlafen.”
“Aber woher kannten Sie den Weg?” Er nahm einen tiefen Zug.
“Ich kannte ihn nicht.”
“Und so einen Zufall soll ich Ihnen glauben? Sie müssen mich für ziemlich dämlich halten, Mr. Ryder.”
Josh war klar, dass sich seine Erklärungsversuche lachhaft anhörten. Die Wahrheit hätte indes noch grotesker geklungen.
Ich fühlte mich hierher getrieben, obwohl ich keine Ahnung hatte, wohin ich lief.
“Was würden Sie an meiner Stelle tun, wenn Ihnen jemand solchen Unsinn erzählt? Würden Sie ihm auch nur ein Wort glauben?”
Was sollte er ihm nur sagen? Was
konnte
er ihm sagen? Die Wahrheit. Das könnte klappen. “Nein. Wahrscheinlich nicht. Aber um ehrlich zu sein, habe ich Ihnen nichts anderes zu sagen.”
Tatti tat einen tiefen Lungenzug und blies den Qualm durch die Nase aus. “Im Übrigen: Wie sehen Sie eigentlich aus? Wo ist Ihr Hemd? Und warum sind Sie blutverschmiert? Und schauen Sie sich mal Ihre Hände an! Ist das etwa auch alles Zufall? Schlaflosigkeit? Oder ist der Jetlag schuld? Ich höre.”
“Das kann ich Ihnen erklären, Commissario.” Josh hielt die Hände mit den Handflächen nach oben und betrachtete sie mit gerunzelter Stirn. “Das Hemd habe ich zerrissen – einerseits, um die Blutung bei Professor Rudolfo zu stillen, andererseits, um mir die Hände zu verbinden. Ich hatte sie mir bei einem Sturz aufgescheuert. Ich leide unter Klaustrophobie, müssen Sie wissen.” Er schaute auf und sah sein Gegenüber an. “Das ist kein Scherz. Ich halte mich nur höchst ungern in so engen Räumen auf. Heute Morgen bin ich beim Einstieg von der Leiter abgerutscht und in die Grabkammer gestürzt. Dabei habe ich mir die Hände aufgescheuert. Es hat ziemlich geblutet, könnte aber schlimmer sein. Die Stofffetzen müssten übrigens noch unten liegen.” Josh blickte an sich herunter. “In der ganzen Aufregung habe ich nicht darauf geachtet.”
Tatti rang die Hände. Anscheinend reichte es ihm fürs Erste. Er fasste Josh mit größerem Druck am Arm, als nötig gewesen wäre, und eskortierte ihn zu einer unscheinbaren, zivilen Limousine. Dort ließ er Josh hinten einsteigen, knallte vernehmlich die Tür zu und schloss ab. “Fühlen Sie sich … wie sagt man noch? ach ja – fühlen Sie sich wie zu Hause”, rief er Josh durch das offene Seitenfenster zu. “Bin gleich zurück.”
Trotz der heruntergelassenen Seitenscheibe war es heiß und stickig im Wagen, und außerdem roch es durchdringend nach starken Zigaretten. Josh beobachtete, wie Tatti Gabriella weiter ins Gebet nahm. Sie blickte zum Wagen herüber, immer wieder. Gab sie Josh die Schuld? Oder wollte sie ihn auffordern, ihr zu Hilfe zu kommen und sie vor weiteren Fragen zu retten?
Als flehte sie ihn an, sie zu retten.
Wie vertraut ihm dieser Gedanke erschien!
Hatte ihn früher schon einmal eine Frau um Hilfe angefleht? In diesem Wäldchen sogar?
Sah er Gespenster? Oder war es nur sein
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