Der Menschen Hoerigkeit
Wunsch, dass Du bei ihrer Beerdigung zugegen seist, und ich nehme an, dass Du so bald wie möglich kommen wirst. Es ruht jetzt natürlich eine große Last auf meinen Schultern, und ich bin sehr mitgenommen. Ich hoffe, dass Du mir bei allem behilflich sein wirst.
Dein Dich liebender Onkel
William Carey
52
Am nächsten Tag traf Philip in Blackstable ein. Seit dem Tode seiner Mutter hatte er keinen ihm nahestehenden Menschen mehr verloren. Der Tod seiner Tante erschütterte ihn und erfüllte ihn zugleich mit einer seltsamen Angst; er fühlte zum ersten Mal seine eigene Sterblichkeit. Er konnte sich nicht vorstellen, wie nun das Leben seines Onkels aussehen sollte, ohne die vertraute Gegenwart der Frau, die ihn vierzig Jahre lang geliebt und umsorgt hatte. Er machte sich darauf gefasst, ihn gebrochen und von Kummer überwältigt anzutreffen. Er fürchtete sich vor der ersten Begegnung; er wusste, dass er nichts Tröstliches sagen konnte, und verwarf immer aufs Neue die Phrasen, die er sich im Geist zurechtgelegt hatte.
Er betrat das Pfarrhaus durch die Seitenpforte und begab sich ins Speisezimmer. Onkel William las die Zeitung.
»Dein Zug hatte Verspätung«, sagte er aufblickend.
Philip war auf einen Gefühlsausbruch gefasst gewesen, und der sachlich-nüchterne Empfang verblüffte ihn. Sein Onkel, gedrückt, aber ruhig, reichte ihm die Zeitung.
»In der Blackstable Times steht ein sehr netter Artikel über sie«, sagte er.
Philip las ihn mechanisch.
»Möchtest du sie sehen?«
Philip nickte, und sie gingen in das obere Stockwerk. Tante Louisa lag mitten auf einem großen Bett, von Blumen umgeben.
»Möchtest du ein kurzes Gebet sprechen?«, meinte der Vikar.
Er selbst sank in die Knie, und da es von ihm erwartet wurde, folgte Philip seinem Beispiel. Er betrachtete das kleine runzelige Gesicht und war sich nur einer einzigen Empfindung bewusst: Was für ein vertanes Leben!
Nach einer Weile hustete Mr. Carey und stand auf. Er zeigte auf einen Kranz am Fuß des Bettes. »Der ist vom Gutsbesitzer«, sagte er. Er sprach mit leiser Stimme, als wäre er in der Kirche, aber man spürte, dass ihm dies als Geistlichem vertraut war. »Ich glaube, der Tee ist fertig.«
Sie gingen wieder ins Speisezimmer zurück. Die Jalousien waren heruntergelassen, so dass es in einem düsteren Halbdunkel lag. Der Vikar setzte sich an den Platz, an dem sonst seine Frau gesessen hatte, und schenkte feierlich den Tee ein. Philip erwartete unwillkürlich, dass es ihnen beiden unmöglich sein sollte, etwas zu sich zu nehmen. Als er jedoch sah, dass der Appetit seines Onkels unbeeinträchtigt war, griff auch er mit der gewohnten Herzhaftigkeit zu. Eine Zeitlang wurde nichts gesprochen. Philip saß mit kummervoller Miene da und verzehrte einen ausgezeichneten Kuchen.
»Seit meiner Jugend hat sich viel verändert«, sagte der Vikar schließlich. »Als ich Kurat war, war es üblich, den Trauergästen ein Paar schwarze Handschuhe und ein Stück schwarzer Seide für ihre Hüte zu schenken. Deine arme Tante hat die Seide gesammelt und sich dann Kleider daraus genäht. Zwölf Begräbnisse ergeben ein Kleid, pflegte sie zu sagen.«
Dann erzählte er Philip, wer Kränze geschickt hatte; schon vierundzwanzig waren eingetroffen. Als Mrs. Rawlingson, die Frau des Vikars von Ferne, gestorben war, hatte sie zweiunddreißig bekommen. Jedenfalls würden morgen noch viele kommen. Die Beerdigung begann um elf Uhr in der Pfarre, und Mrs. Rawlingson würde leicht zu schlagen sein. Louisa hatte Mrs. Rawlingson nie gemocht.
»Ich werde das Begräbnis selbst übernehmen. Das habe ich Louisa versprochen.«
Philip beobachtete mit Missbilligung, dass sein Onkel ein zweites Stück Kuchen nahm. Unter diesen Umständen blieb ihm nichts anderes übrig, als ihn für gefräßig zu halten.
»Mary Ann versteht sich großartig aufs Kuchenbacken. Ich fürchte, ich werde niemanden finden, der das so gut kann.«
»Ja, soll sie denn gehen?«, rief Philip erstaunt.
Mary Ann war im Pfarrhaus gewesen, solange er denken konnte. Sie erinnerte sich stets an seinen Geburtstag und versäumte nie, ihm ein kleines Geschenk zu schicken, wenn es auch noch so bescheiden war. Er hatte sie aufrichtig gern.
»Ja«, antwortete Mr. Carey. »Es scheint mir nicht ganz schicklich, eine ledige Frau im Hause zu haben.«
»Aber, guter Gott, sie muss doch längst über vierzig sein!«
»Das stimmt. Aber sie ist recht anstrengend geworden in letzter Zeit. Sie ist mir ein
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