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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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überlegen, auf welche Charakterfehler dies schließen ließe, und Philip beendete den Satz:
    »Unschlüssigkeit, Unfähigkeit, Unvorsichtigkeit.«
    Der Vikar blickte schnell auf, um zu sehen, ob ihn sein Neffe verspottete. In Philips Augen war ein Zwinkern, das den Alten irritierte. Er fühlte die Berechtigung, Philip einen Hieb zu versetzen.
    »Deine Geldangelegenheiten gehen mich nichts mehr an. Du bist dein eigener Herr. Ich möchte dich nur daran erinnern, dass dein Vermögen nicht ewig ausreichen und dein Gebrechen dir den Kampf ums Dasein nicht eben erleichtern wird.«
    Philip hatte sich allmählich daran gewöhnt, von Menschen, die auf ihn wütend waren, an seinen Klumpfuß erinnert zu werden. Seine Haltung gegenüber der Menschheit war davon geprägt, dass kaum jemand dieser Versuchung widerstehen konnte. Aber gleichzeitig hatte er sich dazu erzogen, durch kein Zeichen zu verraten, dass ihn die Anspielung verletzte. Er hatte sich sogar so weit in der Gewalt, das Erröten zu unterdrücken, das ihn in seiner Jugend so sehr gequält hatte.
    »Wie du ganz richtig feststellst«, antwortete er, »gehen dich meine Geldangelegenheiten nichts mehr an, und ich bin mein eigener Herr.«
    »Auf alle Fälle musst du zugeben, dass ich recht gehabt habe, als ich mich gegen deinen Berufswunsch, Maler zu werden, ausgesprochen habe.«
    »Das möchte ich nicht behaupten. Vermutlich lernt man mehr aus den Fehlern, die man aus eigenem Antrieb begeht, als aus vielen wichtigen Schritten, die man auf fremden Rat hin tut. Ich habe mein Abenteuer gehabt und bin bereit, mich für etwas zu entscheiden.«
    »Und was gedenkst du nun zu tun?«
    Philip war auf diese Frage nicht vorbereitet, da er sich noch nicht entschlossen hatte. Ein Dutzend Berufe waren ihm durch den Kopf gegangen.
    »Das Vernünftigste wäre, du würdest Arzt wie dein Vater.«
    »Merkwürdig, genau das hatte ich auch gedacht.«
    Er hatte unter anderem auch den Arztberuf erwogen, hauptsächlich, weil mit diesem ein großes Maß an persönlicher Freiheit verbunden zu sein schien und er aufgrund seiner Erfahrungen mit dem Büroleben damit nichts mehr zu tun haben wollte; die Worte waren ihm unversehens über die Lippen gekommen, aus einer spielerischen Freude an der passenden Antwort. Es gefiel ihm, sich auf diese zufällige Art zu entscheiden, und er beschloss auf der Stelle, im Herbst mit dem Studium der Medizin zu beginnen.
    »Deine beiden Pariser Jahre können demnach als pure Zeitverschwendung angesehen werden?«
    »Das möchte ich nicht sagen. Es waren zwei sehr vergnügte Jahre, und ich habe eine Menge gelernt.«
    »Nämlich?«
    Philip überlegte einen Augenblick, und seine Antwort war nicht frei von der Absicht, Ärger zu erregen.
    »Ich habe gelernt, Hände anzuschauen, wie ich sie nie vorher angeschaut habe. Und anstatt bloß Häuser und Bäume anzusehen, habe ich gelernt, Häuser und Bäume anzusehen, wie sie sich vom Himmel abheben. Und außerdem habe ich gelernt, dass Schatten nicht schwarz, sondern farbig sind.«
    »Du kommst dir wahrscheinlich sehr witzig vor. Ich finde deinen Mangel an Ernst äußerst albern.«
    53
     
    Mr.   Carey nahm die Zeitung und zog sich in sein Studierzimmer zurück. Philip vertauschte seinen Stuhl mit dem bequemen, in dem sein Onkel gesessen hatte, und schaute durch das Fenster in den strömenden Regen hinaus. Trotz des traurigen Wetters hatten diese grünen Wiesen, die sich bis zum Horizont erstreckten, etwas unendlich Friedliches. Die Landschaft hatte einen stillen Zauber, den er früher nicht erkannt hatte. Zwei Jahre in Frankreich hatten ihm die Augen für die Schönheiten seiner Heimat geöffnet.
    Mit einem Lächeln dachte er an die Bemerkung seines Onkels. Welches Glück, dass ihm dieser sogenannte Mangel an Ernst gegeben war! Er hatte zu erkennen begonnen, welch großen Verlust er durch den Tod seines Vaters und seiner Mutter erlitten hatte. Das machte einen der Unterschiede in seinem Leben aus, die ihn daran hinderten, die Dinge ebenso zu sehen wie andere Leute. Die Liebe der Eltern zu ihren Kindern ist das einzige vollkommen selbstlose Gefühl. Durch seine Kindheit unter Fremden war er nur selten mit Geduld oder Nachsicht behandelt worden. Er war stolz auf seine Selbstbeherrschung. Er hatte sie erlangt durch den Spott seiner Kameraden. Daraufhin nannten sie ihn zynisch und hart. Er hatte gelernt, gefasst zu sein und fast immer gleichmütig zu erscheinen, so dass er nun außerstande war, seine Gefühle zu zeigen. Die Leute

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