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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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Meinung und das Gewissen: Die ersten beiden konnten überlistet werden, denn die List ist die einzige Waffe der Schwachen im Kampf gegen die Starken. Der Volksmund fasst dies hervorragend zusammen: Sünde besteht darin, sich erwischen zu lassen. Aber das Gewissen ist der Verräter innerhalb der eigenen Mauern; in jedem Herzen trägt es die Schlacht mit der Gesellschaft aus und bringt den Einzelnen dazu, sich für das Wohlergehen der Gesellschaft einzusetzen – ein mutwilliges Opfer. Denn es ist logisch, dass diese beiden Kontrahenten unvereinbar sind, der Staat und das Individuum, das sich seiner selbst bewusst ist. Jener nutzt das Individuum für seine eigenen Ziele, zermalmt es, wenn es ihm im Weg steht, und belohnt es mit Medaillen, Rentenzahlungen und Ehrungen, wenn es ihm ergeben dient. Das Individuum aber, nur in seiner Unabhängigkeit stark, schlängelt sich einfachheitshalber seinen Weg durch den Staat, bezahlt mit Geld oder Dienstleistungen, was er ihm an Bequemlichkeiten gewährt, aber ohne das Gefühl einer Verpflichtung; den Ehrungen gegenüber gleichgültig, will es einfach in Frieden gelassen werden. Es ist der unabhängige Reisende, der Cooks Reiseangebote nutzt, weil sie ihm Mühen ersparen, der aber mit gutmütiger Verachtung auf die geführten Rundreisen herabblickt. Ein freier Mensch kann keine Fehler machen. Er tut alles, was er will – wenn er kann. Seine Macht ist die einzige Grenze seiner Moral. Er anerkennt die Gesetze des Staates und kann ohne ein Gefühl der Sünde gegen sie verstoßen; wird er aber gestraft, nimmt er die Strafe ohne Groll an. Die Gesellschaft hat die Macht.
    Wenn es aber für das Individuum weder Gut noch Böse gab, dann verlor, so schien es Philip, auch das Gewissen seine Macht.
    Mit einem Schrei des Triumphes schüttelte Philip den trügerischen Eindringling ab. Und doch war er dem Sinn des Lebens nicht nähergekommen. Warum die Welt da war und zu welchem Zweck die Menschen existierten, blieb ihm ebenso unverständlich wie zuvor. Sicherlich musste es einen Grund dafür geben. Er dachte an Cronshaws Gleichnis von dem persischen Teppich. Es sollte eine Lösung des Rätsels enthalten. Aber Cronshaw hatte geheimnisvoll angedeutet, dass es nur dem eine Antwort bot, der sie selbst zu entdecken vermochte.
    ›Was er nur gemeint haben mag‹, fragte sich Philip mit einem Lächeln.
    Und so machte er sich denn, voll Ungeduld, all seine neuen Theorien in die Praxis umzusetzen, mit seinem Klumpfuß und sechzehnhundert Pfund in der Tasche am letzten Septembertag ein zweites Mal nach London auf, um zum dritten Mal im Leben sein Glück zu versuchen.
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    Die Prüfung, die Philip vor seinem Eintritt in Mr.   Carters Büro als Bücherrevisor abgelegt hatte, bildete eine ausreichende Qualifikation für das Studium der Medizin. Philip hatte beschlossen, im St.   Luke’s Hospital anzufangen, wo sein Vater studiert hatte, und war vor Ende des Sommersemesters nach London gefahren, um sich mit dem Sekretär in Verbindung zu setzen. Von ihm hatte er eine Liste von Zimmern erhalten und sich darauf in einem schäbigen Haus eingemietet, das den Vorteil hatte, nur wenige Schritte vom Krankenhaus entfernt zu sein.
    »Sie werden sich einen Teil zum Sezieren sichern müssen«, sagte ihm der Sekretär. »Ich rate Ihnen, mit einem Bein anzufangen. Das tun die meisten. Sie behaupten, dass es das Einfachste sei.«
    Philip stellte fest, dass die erste Vorlesung, Anatomie, um elf Uhr stattfand, und gegen halb elf hinkte er über die Straße und begab sich etwas nervös in die Medizinische Fakultät. Gleich hinter dem Eingang waren ein paar Bekanntmachungen angeschlagen, Vorlesungsverzeichnisse, Sportnachrichten und dergleichen; vor diesen blieb er lässig stehen, bemüht, sicher und unbefangen auszusehen. Junge Männer kamen herein und schauten nach Briefen in den Fächern, plauderten miteinander und gingen hinunter ins Souterrain, in dem sich der Lesesaal der Studenten befand. Philip bemerkte ein paar ratlos und schüchtern herumstehende Leute und schloss, dass sie wie er selbst wohl zum ersten Mal hier waren. Als er die Anschläge gelesen hatte, fiel ihm eine Glastür auf, die in eine Art Museum führte, und da er noch zwanzig Minuten Zeit hatte, trat er ein. Es war eine Sammlung pathologischer Präparate. Nach einer Weile wandte sich ein Junge von ungefähr achtzehn Jahren an ihn.
    »Sind Sie im ersten Semester?«, fragte er.
    »Ja«, antwortete Philip.
    »Können Sie mir sagen, wo der Hörsaal

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