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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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sagten, er wäre gefühllos; aber er wusste, dass er seinen Gefühlen ausgeliefert war: Eine zufällige Freundlichkeit konnte ihn so sehr rühren, dass er manchmal nicht zu sprechen wagte, um sich nicht durch das Schwanken seiner Stimme zu verraten. Er erinnerte sich der Bitterkeit seiner Schuljahre, der Demütigungen, die er erlitten, der Spöttereien, die ihm eine krankhafte Angst vor der Lächerlichkeit eingeflößt hatten, und er erinnerte sich, wie einsam er sich später draußen im Leben gefühlt und wie viel an Ernüchterung und Enttäuschung er erfahren hatte – denn wie groß ist der Unterschied zwischen dem, was die Welt verspricht, und dem, was sie zu halten vermag! Und trotz alledem war er nun imstande, sich selbst mit unbefangenen Augen zu betrachten und über das, was er sah, belustigt zu lächeln.
    ›Bei Gott, wenn mir dieser Mangel an Ernst nicht gegeben wäre, müsste ich mich erhängen‹, dachte er vergnügt.
    Und dann wanderten seine Gedanken zurück zu der Antwort auf die Frage, was er in Paris gelernt habe. Er hatte um vieles mehr gelernt, als er seinem Onkel sagen konnte. Ein Gespräch mit Cronshaw haftete in seinem Gedächtnis, und eine Formulierung, die er verwendet hatte, mochte sie auch ein Gemeinplatz sein, hatte ihn zum Nachdenken veranlasst.
    »Mein lieber Freund«, hatte Cronshaw gesagt, »abstrakte Moral gibt es nicht.«
    Als Philip aufgehört hatte, an die christliche Religion zu glauben, fühlte er, dass eine schwere Last von seinen Schultern genommen worden war; indem er die Verantwortung abschüttelte, die auf jeder Handlung lastete, sofern jede Handlung unendlich bedeutsam war für das Wohlergehen seiner unsterblichen Seele, erfuhr er eine lebhafte Empfindung von Freiheit. Aber nun wusste er, dass das eine Illusion war. Als er den Glauben, in dem er aufgezogen worden war, abgelegt hatte, hatte er die Moral, die ein Teil davon war, unverändert beibehalten. Daher entschloss er sich, selber über die Dinge nachzudenken. Er wollte sich von keinen Vorurteilen beeinflussen lassen. Er schob Tugenden und Laster, die etablierten Gesetze von Gut und Böse beiseite, in der Absicht, die Normen für das Leben selbst herauszufinden. Er wusste nicht, warum überhaupt Normen notwendig waren. Dies war eines der Dinge, die er erforschen wollte. Es war völlig klar, dass das, was gültig erschien, nur deshalb so erschien, weil es ihm von frühester Jugend an gelehrt worden war. Er hatte eine Anzahl von Büchern gelesen, aber sie halfen ihm nicht viel, da sie auf der Moral des Christentums gegründet waren; und sogar diejenigen Schriftsteller, die betonten, dass sie nicht daran glaubten, waren nicht eher zufrieden, bis sie ein ethisches System entworfen hatten, das in Einklang mit der Bergpredigt stand. Es schien kaum der Mühe wert, ein umfangreiches Buch zu lesen, um daraus zu lernen, dass man sich genau wie jeder andere verhalten sollte. Philip wollte herausfinden, wie er sich verhalten sollte, und dachte, er könnte sich davor bewahren, von den Meinungen seiner Umwelt beeinflusst zu werden. Aber in der Zwischenzeit musste er weiterleben, und er stellte sich bis zu dem Zeitpunkt, an dem er seine eigene Verhaltenstheorie entworfen hätte, eine provisorische Regel auf:
    »Folge deinen Neigungen mit gebührender Rücksicht auf den Polizisten um die Ecke.«
    Der größte Gewinn, den er aus Paris gezogen hatte, war eine umfassende geistige Befreiung von den Fesseln, die er seit seiner Kindheit mitgeschleppt hatte. Ohne bestimmten Plan hatte er eine ganze Reihe philosophischer Werke gelesen und sah nun mit Freude den Ferienmonaten entgegen, die vor ihm lagen. Er fing an, aufs Geratewohl zu lesen. Mit Herzklopfen und Aufregung stürzte er sich auf jedes neue System, stets hoffend, einen neuen Weg für sein Verhalten zu finden. Er fühlte sich wie ein Reisender in einem fremden Land, und je weiter er vordrang, desto fesselnder fand er sein Unternehmen. Er las gespannt, wie andere Menschen Romane lesen, und sein Herz jubelte, als er in edlen Worten ausgedrückt fand, was er selbst längst dunkel empfunden hatte. Sein Denken war konkret und bewegte sich nur mit Anstrengung in den Regionen des Abstrakten; aber selbst wenn er nicht alle Einzelheiten zu erfassen vermochte, bereitete es ihm ein eigenartiges Vergnügen, den verwickelten Gedankengängen zu folgen, die sich auf schwindligen Pfaden am Rande des Unverständlichen dahinbewegten. Es gab große Philosophen, die ihm nichts zu sagen hatten, aber bei

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