Der Menschen Hoerigkeit
anderen erkannte er eine Wesensart, in der er sich sofort zu Hause fühlte. Er glich einem Entdecker mitten in Afrika, der plötzlich auf ein weites Hochland stößt mit großen Bäumen und Wiesen wie in einem englischen Park. Er bewunderte den robusten Menschenverstand von Thomas Hobbes; Spinoza erfüllte ihn mit Ehrfurcht; nie vorher war er einem so edlen, unnahbaren und hehren Geist begegnet; er erinnerte ihn an eine Statue von Rodin, L’Age d’Airain, die er leidenschaftlich bewunderte; und dann entdeckte er Hume: Der Skeptizismus dieses bezaubernden Philosophen berührte eine verwandte Saite in Philip, und schwelgend in dem kristallklaren Stil, der imstande schien, die kompliziertesten Gedanken in einfache, wohlklingende und gemessene Worte zu fassen, las er, als habe er ein Gedicht vor sich, mit einem Lächeln des Genusses auf den Lippen. Aber bei keinem dieser Denker fand er wirklich, was er suchte. Er hatte einmal gelesen, dass der Mensch entweder als Platoniker, Aristoteliker, Stoiker oder Epikureer geboren werde. Und George Henry Lewes behauptete (abgesehen davon, dass er alle Philosophie für Schwindel erklärte), dass die Gedanken jedes Philosophen untrennbar mit seinem Charakter verbunden seien. Kannte man diesen, konnte man mit ziemlicher Sicherheit auf seine Philosophie schließen. Es sah demnach aus, als wäre das Tun des Menschen nicht von seinem Denken bestimmt, sondern als wäre dieses Denken von seiner Wesensart abhängig. Mit Wahrheit hatte das nichts zu tun. Es gab keine Wahrheit. Jeder Mensch war sein eigener Philosoph, und die kunstvollen Systeme, welche die großen Männer der Vergangenheit aufgestellt hatten, galten nur für sie selbst.
Es ging also vor allem darum, sein eigenes Ich zu erforschen, und die Philosophie würde sich daraus ergeben. Über drei Dinge, so schien es Philip, musste man sich Klarheit verschaffen: über sein Verhältnis zur Welt, über sein Verhältnis zu den Mitmenschen und über sein Verhältnis zu sich selbst. Philip arbeitete einen sorgfältigen Studienplan aus.
Das Leben in der Fremde hatte einen großen Vorteil: Man beobachtete die Sitten und Gebräuche der Menschen, unter denen man lebte, von außen und war dadurch imstande zu erkennen, dass sie nicht so notwendig waren wie die, die sie ausübten, glaubten. Unwillkürlich gelangte man zu der Einsicht, dass Anschauungen, die man selbst als unumstößlich betrachtete, dem Fremden wiederum unsinnig erschienen. Das Jahr in Deutschland, der lange Aufenthalt in Paris hatten Philip auf die skeptischen Lehren vorbereitet, die er nun mit einem solchen Gefühl der Erleichterung in sich aufnahm. Er sah, dass nichts gut und nichts schlecht war: Die Dinge waren lediglich bestimmten Zwecken untergeordnet. Er las die Entstehung der Arten und fand darin eine Erklärung für vieles, das ihn beschäftigte. Jetzt glich er einem Entdecker, der sich einen großen Fluss hinaufkämpft und der zu dem Schluss gekommen ist, dass bestimmte Landschaftsmerkmale nun auftreten müssen, und der hier den Seitenarm vorfindet, den er erwartet hat, dort die fruchtbaren bevölkerten Ebenen, und noch etwas weiter die Berge. Bei einer großen Entdeckung zeigt sich die Welt im Nachhinein immer überrascht, dass sie nicht sofort anerkannt wurde und sogar auf diejenigen, die ihre Richtigkeit erkannt haben, nur wenig Effekt hatte. Die ersten Leser von Die Entstehung der Arten begriffen das Werk mit ihrem Verstand; aber ihre Gefühle, die ihr Verhalten bestimmten, blieben davon unberührt. Philip war eine Generation nach Erscheinen dieses großartigen Werkes geboren, und vieles, was damals die Zeitgenossen schockiert hatte, war mittlerweile in den Zeitgeist übergegangen, und Philip konnte die Lektüre freudigen Herzens genießen. Das großartige Bild des Lebenskampfes, das sich vor ihm auftat, ergriff ihn tief, und das ethische Gesetz, das daraus abgeleitet wurde, entsprach durchaus dem, was ihm vorschwebte. Die Gesellschaft, ein Organismus mit eigenen Gesetzen des Wachstums und der Selbsterhaltung, stand auf der einen, das Individuum auf der anderen Seite. Handlungen, die der Gesellschaft zum Vorteil dienten, wurden als tugendhaft, solche, die dieser Forderung nicht entsprachen, als böse bezeichnet. Gut und Böse bedeuteten nichts weiter als das. Sünde aber war ein Vorurteil, von dem der freie Mensch sich losmachen sollte. Der Gesellschaft standen drei Waffen zur Verfügung in ihrer Auseinandersetzung mit dem Individuum: Gesetze, die öffentliche
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