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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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ist? Es ist gleich elf.«
    »Lassen Sie uns auf die Suche gehen.«
    Sie verließen das Museum und kamen in einen langen dunklen Gang, dessen Wände in zwei verschiedenen Rotschattierungen gestrichen waren; andere junge Leute, die vor ihnen gingen, wiesen ihnen die Richtung. Schließlich gelangten sie zu einer Tür, über der Hörsaal der Anatomie geschrieben stand. Es waren bereits zahlreiche Studenten anwesend. Die Bänke waren aufsteigend angeordnet, und gerade als Philip eintrat, kam ein Wärter herein und stellte ein Glas Wasser auf den Vorlesungstisch. Dann brachte er einen Beckenknochen und einen rechten und einen linken Oberschenkelknochen. Es fanden sich immer mehr Leute ein, und gegen elf Uhr war der Saal nahezu voll. Insgesamt waren es ungefähr sechzig Studenten. Zum größten Teil waren sie ein ganzes Stück jünger als Philip, achtzehnjährige Jungen mit glatten Gesichtern, aber es gab auch einige ältere unter ihnen. Philip bemerkte einen großen Mann mit einem kühnen roten Schnurrbart, der dreißig sein mochte, und einen anderen mit schwarzem Haar, der höchstens ein bis zwei Jahre jünger war, und einen, der eine Brille trug und einen ganz grauen Bart hatte.
    Der Professor, Mr.   Cameron, trat ein, ein schöner Mann mit weißen Haaren und klaren Zügen. Er rief eine lange Reihe von Namen auf. Dann hielt er eine kleine Rede. Er sprach mit angenehmer Stimme, in wohlgewählten Worten, deren sorgfältige Anordnung ihm Freude zu bereiten schien. Er nannte ein paar Bücher, die man sich kaufen sollte, und riet zur Anschaffung eines Skeletts. Er sprach mit Begeisterung über die Anatomie: Sie bilde die Grundlage der Chirurgie; ihre Kenntnis trage zu einem höheren Verständnis der Kunst bei. Philip spitzte die Ohren. Später hörte er, dass Mr.   Cameron auch die Studenten an der Royal Academy unterrichtete. Er hatte viele Jahre lang in Japan gelebt, wo er einen Posten an der Universität von Tokio innehatte, und er war selbst von seinem Verständnis für das Schöne beglückt.
    »Sie werden viele langweilige Dinge zu lernen haben«, schloss er mit einem nachsichtigen Lächeln, »die Sie sofort vergessen werden, wenn Ihre Prüfung hinter Ihnen liegt. Aber in der Anatomie ist es besser, gelernt und wieder vergessen als überhaupt nie gelernt zu haben.«
    Er nahm den Beckenknochen zur Hand, der auf dem Tisch lag, und fing an, ihn zu beschreiben. Er sprach deutlich und klar.
    Nach der Vorlesung schlug der Junge, der Philip im pathologischen Museum angesprochen und nachher neben ihm gesessen hatte, vor, in den Seziersaal zu gehen. Philip und er gingen den Korridor entlang, und ein Wärter wies ihnen den Weg. Sobald sie eintraten, wurde Philip klar, was der merkwürdige, scharfe Geruch zu bedeuten hatte, der ihm bereits auf dem Korridor aufgefallen war. Er zündete sich eine Pfeife an. Der Wärter lachte kurz auf.
    »An den Geruch werden Sie sich bald gewöhnen. Ich bemerke ihn gar nicht mehr.«
    Er fragte Philip nach seinem Namen und schaute auf die Liste am Brett.
    »Sie haben ein Bein zugewiesen bekommen. Nummer vier.«
    Philip bemerkte, dass noch ein zweiter Name neben dem seinen stand.
    »Was hat das zu bedeuten?«, fragte er.
    »Wir haben im Augenblick nicht genug Leichen. Es müssen immer zwei Personen an einem Teil arbeiten.«
    Der Seziersaal war ein großer Raum, genauso gestrichen wie die Korridore, der obere Teil kräftig lachsrot, der untere in einem dunklen Terracotta. An den Längsseiten waren in regelmäßigen Abständen rechtwinklig zur Wand metallene Behälter, geformt wie Fleischbehälter, angebracht, und auf jedem lag eine Leiche. Die meisten waren männlich. Sie waren sehr dunkel von dem Konservierungspräparat, in dem sie gelegen hatten, und die Haut wirkte wie Leder. Die Körper waren äußerst abgemagert. Der Wärter führte Philip zu einem Behälter, neben dem bereits ein junger Mann stand.
    »Heißen Sie Carey?«, fragte er.
    »Ja.«
    »Dann arbeiten wir zusammen an diesem Bein. Wir haben Glück, es handelt sich um einen Mann.«
    »Warum?«, fragte Philip.
    »Männer sind normalerweise beliebter«, antwortete der Wärter. »Frauen haben oft mehr Fettgewebe am Körper.«
    Philip betrachtete die Leiche. Arme und Beine waren so abgemagert, dass sie jede Form verloren hatten, und die Rippen standen so stark hervor, dass die Haut über ihnen spannte. Es war ein Mann von ungefähr fünfundvierzig Jahren, mit einem dünnen grauen Bart und spärlichem farblosen Haar; die Augen waren

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