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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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geschlossen und der Unterkiefer eingesunken. Es kostete Philip Anstrengung, sich vorzustellen, dass dies jemals ein Mensch gewesen war, und doch hatte diese Reihe starrer Leiber etwas Furchtbares und Grausiges.
    »Ich wollte um zwei anfangen«, sagte der junge Mann, der mit Philip sezierte.
    »Gut, ich werde pünktlich sein.«
    Am Vortag hatte er einen Kasten mit den nötigen Instrumenten gekauft und bekam nun ein Fach zugewiesen. Er blickte sich nach dem jungen Menschen um, mit dem er in den Seziersaal gekommen war, und sah, dass er ganz weiß war.
    »Ist Ihnen nicht gut?«, fragte Philip.
    »Ich habe noch nie einen Toten gesehen.«
    Sie gingen miteinander den Korridor entlang bis zum Ausgang. Philip erinnerte sich an Fanny Price. Sie war die erste Leiche, die er je gesehen hatte, und er erinnerte sich, wie seltsam es ihn berührt hatte. Es bestand eine unermessliche Distanz zwischen den Lebendigen und den Toten; sie schienen nicht derselben Spezies anzugehören; und der Gedanke war befremdlich, dass sie vor einer kleinen Weile noch gesprochen, sich bewegt, gegessen und gelacht hatten. Den Toten haftete etwas Schreckliches an, und man konnte sich vorstellen, dass sie einen unguten Einfluss auf die Lebenden haben mochten.
    »Wollen wir nicht eine Kleinigkeit essen gehen?«, fragte ihn sein neuer Freund.
    Gemeinsam gingen sie ins Souterrain, wo ein dunkler Raum als Restaurant eingerichtet war. Hier konnten die Studenten zu den gleichen Preisen einkaufen wie in einem Brotladen. Während sie aßen (Philip hatte sich Gebäck mit Butter und eine Tasse Schokolade bestellt), erfuhr er, dass sein Gefährte Dunsford hieß. Er war ein junger Bursche mit frischem Teint, hübschen blauen Augen, dunklem gelockten Haar, langen, kräftigen Gliedern, der sich langsam bewegte und langsam sprach. Er war gerade von Clifton abgegangen.
    »Haben Sie auch Conjoint gewählt?«, fragte er Philip.
    »Ja, ich möchte so bald wie möglich die Zulassung haben.«
    »Das habe ich auch gewählt, aber danach mache ich noch die Fellowship of the Royal College of Surgeons. Ich will Chirurg werden.«
    Die meisten Studenten wählten das Curriculum des Conjoint Board of the College of Surgeons and the College of Physicians; aber die ehrgeizigsten unter ihnen oder die fleißigeren hängten noch die Studien an, die zu einem Abschluss der University of London führten. Als Philip nach St.   Luke kam, waren die Bestimmungen gerade geändert worden, und das Studium dauerte nun fünf Jahre statt vier, wie für diejenigen, die sich vor Herbst 1892 immatrikuliert hatten.
    Dunsford war genau über den Studiengang informiert und setzte Philip die verschiedenen Abläufe auseinander. Die erste Prüfung, die man abzulegen hatte, umfasste Biologie, Anatomie und Chemie; aber man konnte sich in jedem Fach einzeln prüfen lassen, und die meisten Studenten traten bereits drei Monate nach Beginn des Studiums zur Biologieprüfung an. Dieses Gebiet war erst kürzlich zu den Fächern hinzugefügt worden, in denen die Studenten geprüft wurden, aber noch war das geforderte Wissen relativ gering.
    Als Philip in den Seziersaal zurückkehrte – er kam ein paar Minuten zu spät, weil er vergessen hatte, sich Ärmelschützer zu besorgen –, waren die meisten Studenten bereits an der Arbeit. Sein Partner hatte auf die Minute pünktlich angefangen und war eifrig damit beschäftigt, Nervenstränge freizulegen. Zwei andere sezierten an dem zweiten Bein der Leiche und wieder andere an den Armen.
    »Sie entschuldigen, dass ich bereits angefangen habe?«
    »Aber natürlich, lassen Sie sich nicht stören«, entgegnete Philip.
    Er nahm das Buch, in dem eine Zeichnung des zu sezierenden Beines aufgeschlagen war, und sah nach, was verlangt wurde.
    »Sie scheinen ja ein Könner zu sein«, sagte er zu seinem Kameraden.
    »Oh, ich habe schon eine ganze Menge seziert, Tiere, für das Vorexamen.«
    An dem Seziertisch wurde allerhand gesprochen, teils über die Arbeit, teils über die Aussichten bei den Fußballspielen, die Prosektoren und die Professoren. Philip fühlte sich um vieles älter als die andern. Sie kamen ihm alle wie unreife Schuljungen vor. Aber stärker als durch Jahre wird das Alter durch das Wissen bestimmt, und Newson, der fleißige junge Mann, der mit ihm arbeitete, war mit seinem Gegenstand sehr vertraut. Es machte ihm womöglich auch Freude, mit seinen Kenntnissen anzugeben, und er setzte Philip ausführlich auseinander, was er tat. Philip hörte ihm, all seiner

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