Der Menschen Hoerigkeit
Schmeichelei. Sie fand, dass Philip eine tapfere Tat vollbracht hatte, als er von Paris wegging, weil ihm bewusst geworden war, kein großer Künstler werden zu können, und er war entzückt, wenn sie ihrer begeisterten Bewunderung für ihn Ausdruck gab. Er selbst war sich nie ganz schlüssig darüber geworden, ob diese Tat Mut oder Ziellosigkeit bedeutet hatte. Er freute sich sehr, dass sie es heldenhaft fand. Sie ließ es darauf ankommen, ein Thema anzuschneiden, das seine Freunde instinktiv mieden.
»Es ist sehr dumm von dir, dass du wegen des Klumpfußes so empfindsam bist«, sagte sie. Sie sah, wie er dunkelrot wurde, fuhr aber ruhig fort. »Die andern denken nämlich nicht halb so viel daran wie du selber. Es fällt ihnen das erste Mal auf, wenn sie dich sehen, und dann vergessen sie es.«
Er antwortete nicht.
»Du bist mir nicht böse, nicht wahr?«
»Nein.«
Sie legte ihren Arm um seinen Hals.
»Weißt du, ich spreche nur davon, weil ich dich liebe. Ich möchte nicht, dass es dich unglücklich macht.«
»Ich glaube, du kannst mir alles sagen, was du willst«, sagte er lächelnd. »Ich wünschte, ich könnte dir irgendwie zeigen, wie dankbar ich bin.«
Sie nahm sich auch in anderen Beziehungen seiner an. Er durfte nicht brummig sein, und sie lachte ihn aus, wenn er wütend war. Sie machte ihn umgänglicher.
»Du kannst mit mir machen, was du willst«, sagte er einmal.
»Hast du etwas dagegen?«
»Nein, ich tue gern, was du willst.«
Er war vernünftig genug, sein Glück zu erkennen. Sie schien ihm alles zu geben, was eine Frau ihm nur geben konnte, und doch durfte er seine Freiheit behalten. Sie war der reizendste Freund, den er je gehabt hatte, mit einem Verständnis und einer Anteilnahme, wie sie ihm noch bei keinem Mann begegnet war. Die geschlechtliche Beziehung war nichts weiter als das stärkste Band ihrer Freundschaft. Es vervollständigte sie, aber es war nicht wesentlich. Und da Philips Verlangen befriedigt war, wurde er ausgeglichener, und es war leichter, mit ihm zu leben. Er hatte sich im Griff. Er dachte manchmal an den Winter und an die Leidenschaft, die ihn damals so schrecklich gequält hatte, und er empfand Ekel vor Mildred und Grauen vor sich selbst.
Die Examen rückten näher, und Norah hatte so viel Interesse daran wie er selbst. Ihr Eifer schmeichelte ihm und rührte ihn. Er musste ihr versprechen, dass er sofort zu ihr kommen werde, um ihr das Ergebnis mitzuteilen. Diesmal bestand er die drei Teile tadellos, und als er zu ihr kam, um es ihr zu erzählen, brach sie in Tränen aus.
»Ach, ich bin so froh. Ich war so unruhig.«
»Du kleines Dummerchen«, lachte er, aber die Kehle war ihm wie zugeschnürt.
Jeder hätte sich über die Art, in der sie es aufnahm, gefreut. »Und was wirst du jetzt tun?«, fragte sie.
»Jetzt kann ich mit gutem Gewissen Ferien machen. Ich habe bis zum Oktober, wenn das neue Semester anfängt, nichts mehr zu tun.«
»Ich nehme an, dass du nach Blackstable zu deinem Onkel gehst.«
»Dann nimmst du etwas ganz Falsches an. Ich bleibe in London und spiele mit dir.«
»Es wäre mir lieber, wenn du weggehen würdest.«
»Wieso? Hast du mich satt?«
Sie lachte und legte ihm die Hände auf die Schultern.
»Weil du viel gearbeitet hast. Du siehst völlig mitgenommen aus. Du brauchst frische Luft und Ruhe. Bitte geh!«
Er antwortete nicht gleich. Er sah sie mit liebevollem Blick an.
»Ich würde es niemandem glauben außer dir. Du denkst nur an mein Wohl. Ich möchte einmal wissen, was du eigentlich an mir findest.«
»Willst du mir ein Lob ins Entlassungszeugnis schreiben?«, sagte sie mit einem fröhlichen Lachen.
»Ich werde sagen, dass du freundlich und voller Rücksicht und nie zu anspruchsvoll bist. Du machst dir nie schwere Gedanken, du bist nicht schwierig, und es ist leicht, dich zufriedenzustellen.«
»Das ist alles Unsinn«, sagte sie, »aber ich sage dir was: Unter den Menschen, die mir begegnet sind, gehöre ich zu den wenigen, die es fertiggebracht haben, aus ihren Erfahrungen zu lernen.«
67
Philip wartete ungeduldig darauf, nach London zurückzukehren. Während der zwei Monate, die er in Blackstable zubrachte, schrieb Norah ihm häufig. Lange Briefe mit großen, kühnen Schriftzügen, in denen sie mit fröhlichem Humor die kleinen Tagesereignisse beschrieb, die Familienschwierigkeiten ihrer Wirtin – viel Grund zum Lachen –, die komischen Scherereien bei den Proben – sie wirkte als Statistin bei einer großen Show in
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