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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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Cambridge studiert hatte. Er war Börsenmakler und Philosoph. Er pflegte einmal in der Woche dort einzukehren, und so nahmen auch Philip, Lawson und Hayward die Gewohnheit an, sich dort jeden Dienstagabend zu treffen. Durch die sich ändernden Moden war die Taverne jetzt nur wenig besucht – ein zusätzlicher Vorteil für diejenigen, die Freude am Gespräch haben. Macalister war ein grobknochiger Mann, für seinen Umfang viel zu klein, mit einem fleischigen Gesicht und einer sanften Stimme. Er war Kantianer und beurteilte alles vom Standpunkt der reinen Vernunft aus. Gern trug er seine Lehren vor. Philip hörte interessiert und aufgeregt zu. Er war schon lange zu dem Schluss gekommen, dass er der Metaphysik mehr Interesse entgegenbrachte als anderen Dingen, aber er war sich ihrer Wirksamkeit im alltäglichen Leben nicht sicher. Das System, das er als Ergebnis seiner Meditationen in Blackstable errichtet hatte, war, während er in Mildred vernarrt war, von keinem sichtbaren Nutzen gewesen. Er war sich nicht ganz sicher, ob die Vernunft im Leben wirklich viel helfen konnte. Es schien ihm, als lebe das Leben sich selbst. Er erinnerte sich lebhaft an die Leidenschaft, von der er besessen gewesen war, und an seine Unfähigkeit, ihr entgegenzuwirken, als wäre er mit Stricken gebunden. In den Büchern las er viele weise Dinge – aber urteilen konnte er nur gemäß seinen eigenen Erfahrungen (er wusste nicht, ob er vielleicht anders war als andere Leute). Er berechnete niemals das Für und Wider einer Handlung, den Nutzen, den er daraus ziehen könnte, wenn er es täte, das Nachteilige, das sich für ihn ergeben würde, wenn er es unterließe; aber sein ganzes Wesen wurde von einer unwiderstehlichen Kraft getrieben. Er handelte nicht mit einem Teil seiner selbst, sondern als Ganzes. Die Macht, die von ihm Besitz ergriff, schien mit Vernunft nichts zu tun zu haben: Alles, was der Verstand tat, war, ihm die Methoden zu zeigen, mit deren Hilfe er erreichen konnte, wonach er mit ganzer Seele strebte.
    Macalister erinnerte ihn an den kategorischen Imperativ.
    »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.«
    »Das scheint mir völliger Unsinn«, sagte Philip.
    »Es ist ein bisschen kühn, das von etwas zu behaupten, was Immanuel Kant gesagt hat«, entgegnete Macalister.
    »Wieso? Ehrfurcht vor dem, was jemand gesagt hat, ist eine Eigenschaft, die verblödet. Es gibt eine verdammte Menge zu viel Respekt in der Welt. Kant dachte seine Gedanken nicht, weil sie wahr waren, sondern weil er eben Kant war.«
    »Was haben Sie gegen den kategorischen Imperativ einzuwenden?« (Sie redeten, als hinge das Schicksal der Welt davon ab.)
    »Er tut so, als könnte man sein Schicksal durch eine Willensanstrengung bestimmen; so, als wäre die Vernunft der sicherste Führer. Warum sollte ihr Diktat besser sein als das der Leidenschaft? Sie sind verschieden, das ist alles!«
    »Sie scheinen ein zufriedener Sklave Ihrer Leidenschaften zu sein.«
    »Ein Sklave schon, weil ich nichts dagegen tun kann – ein zufriedener jedoch nicht«, sagte Philip lachend.
    Während er sprach, dachte er an den Irrsinn, der ihn zu Mildred getrieben hatte. Er erinnerte sich, wie er dagegen aufbegehrt und wie er die Erniedrigung empfunden hatte.
    ›Gott sei Dank‹, dachte er, ›davon bin ich jetzt frei.‹
    Und doch war er, selbst im Augenblick, als er sich das sagte, nicht ganz sicher, ob das wirklich ehrlich war. Als er unter dem Einfluss der Leidenschaft stand, hatte er eine einzigartige Kraft gefühlt; sein Geist hatte mit ungewöhnlicher Energie gearbeitet. Er war lebendiger, das reine Dasein war voller Erregung, eine kühne Vehemenz der Seele – wogegen das Leben jetzt ein klein wenig stumpf schien. All der Kummer, den er ausgestanden hatte, wurde durch das drängende, überwältigende Leben aufgewogen.
    Durch Philips unglückliche Äußerung kam eine Diskussion über die Willensfreiheit in Gang. Macalister mit seinem gutsortierten Gedächtnis brachte Argument um Argument vor. Er hatte Freude an der Dialektik und zwang Philip, sich selbst zu widersprechen; er trieb ihn in die Enge, aus der er sich nur durch Konzessionen retten konnte, die seinen Standpunkt schwächten; er stellte Philips Logik Fallen und schlug ihn mit Autoritäten.
    Schließlich sagte Philip:
    »Über andere Leute mag ich vielleicht nichts aussagen können; ich kann nur über das reden, was mich selbst angeht. Die Illusion

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