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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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Gewohnheit des Lesens: Er wusste nicht, dass er sich damit eine Zuflucht baute gegen alle Kümmernisse des Daseins; ebenso wenig wusste er aber, dass er sich damit eine unwirkliche Welt schuf, neben der sich die Wirklichkeit in eine Quelle bitterer Enttäuschungen verwandelte. Nach einiger Zeit fing er an, andere Sachen lesen. Sein Verstand war seinen Jahren voraus. Als seine Pflegeeltern sahen, dass er sich nun selbst beschäftigte und weder störte noch lärmte, hörten sie auf, sich Sorgen um ihn zu machen. Mr. Carey hatte so viele Bücher, dass er sie nicht einmal dem Titel nach kannte. Weil er selbst so wenig las, hatte er auch die etwas eigentümlichen vergessen, die er gelegentlich gekauft hatte, weil sie günstig waren. Zwischen Predigten und Traktaten, Reisebeschreibungen, Heiligenleben und Kirchengeschichten fanden sich altmodische Romane; und diese waren es, die Philip eines Tages entdeckte. Er wählte sie nach den Titeln aus; und der erste war Die Hexen von Lancashire. Dann las er Der bewundernswerte Crichton und noch vieles mehr. Wenn ein Buch damit anfing, dass zwei einsame Reisende am Rande eines gefährlichen Abgrundes dahinritten, hatte er gefunden, was er suchte.
    Indessen war es Sommer geworden. Der Gärtner, ein alter Matrose, machte ihm eine Hängematte und befestigte sie in den Zweigen einer Trauerweide. Hier lag er nun stundenlang, verborgen vor aller Welt, und las, las, las. Die Zeit ging dahin, und es wurde Juli; der August kam heran: Am Sonntag war die Kirche voll von Fremden, und die Sammlung ergab oft bis zu zwei Pfund. Der Vikar und Mrs.   Carey verließen in diesen Wochen ihren Garten kaum, denn sie liebten fremde Gesichter nicht und betrachteten die Gäste aus London mit Missfallen. Das gegenüberliegende Haus wurde auf sechs Wochen von einem Herrn gemietet, der zwei kleine Jungen hatte und einmal anfragen ließ, ob Philip mit ihnen spielen wolle. Aber Mrs.   Carey lehnte höflich ab. Sie fürchtete, Philip könnte durch die Londoner Kinder verdorben werden. Er sollte Geistlicher werden und musste vor bösen Einflüssen bewahrt werden. Gerne wollte sie in ihm einen kindlichen Samuel sehen.
    10
     
    Die Careys fassten den Entschluss, Philip in die Kings School in Tercanbury zu schicken, wo die Geistlichkeit der Nachbarschaft ihre Söhne erziehen ließ. Diese Schule war durch alte Tradition mit der Kathedrale verbunden: Ihr Leiter war Ehrenkanonikus, und ein ehemaliger Direktor war Erzbischof gewesen. Die Knaben wurden hier ermuntert, sich dem geistlichen Beruf zuzuwenden, und die Erziehung war darauf ausgerichtet, auf ein dem Dienst Gottes geweihtes Leben vorzubereiten. Zu der Anstalt gehörte auch eine Vorbereitungsschule, und diese sollte Philip besuchen. Mr.   Carey brachte ihn gegen Ende September an einem Donnerstagnachmittag nach Tercanbury. Den ganzen Tag war Philip sehr aufgeregt gewesen. Er fürchtete sich vor dem Schulleben, das er bisher nur aus den Geschichten in The Boy’s Own Paper kannte.
    Als er in Tercanbury aus dem Zug stieg, fühlte er sich krank vor Angst, und während der Fahrt in die Stadt saß er still und schweigend da. Eine hohe Ziegelmauer gab dem Schulgebäude das Aussehen eines Gefängnisses. Als sie klingelten, öffnete sich eine kleine Tür, und ein schwerfälliger, unordentlicher Mann kam heraus und nahm Philips Koffer und Spielzeugschachtel an sich. Sie wurden ins Empfangszimmer geführt, in dem massive, hässliche Möbeln standen. Steif und ungastlich waren die Stühle der Salongarnitur längs der Wände aufgereiht. Mr.   Carey und Philip warteten auf den Direktor.
    »Wie sieht Mr.   Watson aus?«, fragte Philip nach einer Weile.
    »Das wirst du gleich sehen.«
    Wieder trat eine Pause ein. Mr.   Carey wunderte sich, dass der Direktor so lange nicht erschien. Nach einer Weile entrang sich Philip ein zweiter Satz:
    »Sag ihm, dass ich einen Klumpfuß habe.«
    Ehe Mr.   Carey antworten konnte, flog die Tür auf, und Mr.   Watson stürmte ins Zimmer. Philip erschien er riesenhaft. Er war fast zwei Meter groß, sehr breit und hatte ungeheuer große Hände und einen mächtigen roten Bart; er sprach laut und jovial, aber seine aggressive Munterkeit erfüllte Philips Herz mit Schrecken. Mr.   Watson begrüßte Mr.   Carey und nahm dann Philips kleine Hand in die seine.
    »Nun, junger Freund, freust du dich auf die Schule?«, rief er.
    Philip errötete und brachte kein Wort hervor.
    »Wie alt bist du?«
    »Neun Jahre«, sagte Philip.
    »Du musst

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