Der Menschen Hoerigkeit
du sie bis zum Tee ohne Fehler aufsagen kannst, kriegst du die Spitze von meinem Ei.«
Mrs. Carey zog Philips Stuhl an den Esstisch heran – sie hatten ihm inzwischen einen hohen Stuhl gekauft – und legte das Buch vor ihn hin.
»Der Teufel schafft Arbeit für müßige Hände«, sagte Mr. Carey.
Er legte noch ein paar Schaufeln Kohle aufs Feuer, um ein behagliches Lodern vorzufinden, wenn er zum Tee herunterkam, und ging ins Empfangszimmer. Er lockerte den Kragen, schüttelte die Kissen zurecht und machte es sich auf dem Sofa bequem. Aber Mrs. Carey fand es im Salon etwas kühl, und sie brachte ihm aus dem Vorzimmer eine Decke; sie breitete sie über seine Beine und schob sie ihm unter die Füße. Dann ließ sie die Jalousien herunter, damit das Licht ihn nicht blendete, und schlich, als sie bemerkte, dass er die Augen bereits geschlossen hatte, auf Zehenspitzen aus dem Zimmer. Der Vikar war heute im Frieden mit sich selbst und schlief in zehn Minuten ein. Er schnarchte sanft.
Es war der sechste Sonntag nach dem Dreikönigstag, und die Kollekte begann mit den Worten: O Gott, dessen gebenedeiter Sohn die Werke des Teufels zerstört und aus uns Kinder Gottes und Erben des Ewigen Lebens gemacht hat. Philip las die Sätze durch. Er konnte ihren Sinn nicht erfassen. Er fing an, sich die Worte laut vorzusagen, aber viele davon waren ihm unbekannt, und die Satzkonstruktion schien ihm fremd. Es gelang ihm nicht, mehr als zwei Zeilen in seinen Kopf hineinzubringen. Seine Aufmerksamkeit schweifte ständig ab: An die Mauern des Pfarrhauses waren Spalierbäume gespannt, und ein langer Zweig schlug von Zeit zu Zeit ans Fenster; draußen auf der Wiese jenseits des Gartens weideten Schafe. Ihm war, als hätte er Knoten im Gehirn. Eine panische Angst packte ihn, dass er sich die Worte bis zum Tee nicht würde einprägen können, und hastig flüsterte er sie wie ein Papagei immer wieder vor sich hin, ohne auf ihren Sinn zu achten.
Mrs. Carey konnte an diesem Nachmittag nicht schlafen und war um vier Uhr noch so wach, dass sie beschloss hinunterzugehen. Sie wollte Philip abhören, damit er keinen Fehler machte, wenn er seinem Onkel die Kollekte vorsagte. Das würde den Onkel freuen; er würde sehen, dass der Junge das Herz am rechten Fleck hatte. Aber als Mrs. Carey vor dem Speisezimmer stand, im Begriffe einzutreten, hörte sie einen Laut, der sie plötzlich innehalten ließ. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Sie drehte sich um und ging schnell zur Haustür hinaus. Sie ging um das Haus herum bis zum Speisezimmerfenster und schaute vorsichtig hinein. Philip saß noch immer auf dem Stuhl, in den sie ihn gesetzt hatte. Aber er hatte den Kopf auf den Tisch gelegt, in seine Arme vergraben, und schluchzte verzweifelt. Sie sah das krampfhafte Zucken seiner Schultern. Mrs. Carey war erschrocken. Sie hatte es stets erstaunlich gefunden, wie beherrscht der Junge war. Nie hatte sie ihn weinen gesehen. Und nun erkannte sie, dass sich hinter seiner Ruhe bloß die instinktive Scheu verbarg, seine Gefühle zu zeigen; er weinte im Geheimen.
Ohne zu bedenken, dass ihr Gatte nicht gern aus dem Schlaf gerissen wurde, stürzte sie ins Empfangszimmer.
»William, William«, rief sie, »der Junge weint so entsetzlich.«
Mr. Carey richtete sich auf und befreite sich von der Decke, die um seine Beine lag.
»Worüber hat er denn zu weinen?«
»Ich weiß es nicht… Ach, William, der Junge darf nicht unglücklich sein. Glaubst du, dass es unsere Schuld ist? Wenn wir Kinder gehabt hätten, wüssten wir, wie wir mit ihm umgehen sollten.«
Mr. Carey schaute sie verblüfft an. Er fühlte sich außerordentlich hilflos.
»Er kann unmöglich weinen, weil ich ihm die Kollekte zum Auswendiglernen gegeben habe. Sie ist höchstens zehn Zeilen lang.«
»Soll ich ihm nicht ein paar Bücher mit Bildern hinunterbringen? Du hast welche über das Heilige Land. Die darf er doch ansehen?«
»Schön, ich habe nichts dagegen.«
Mrs. Carey eilte ins Studierzimmer. Bücher zu sammeln war Mr. Careys einzige Leidenschaft. Er fuhr nie nach Tercanbury, ohne ein paar Stunden in einem Antiquariat zu verbringen. Jedes Mal brachte er vier oder fünf staubige Bände heim. Er las sie nicht, denn er las seit langer Zeit überhaupt nicht mehr. Aber es machte ihm Freude, in ihnen zu blättern, die Illustrationen zu betrachten und die Einbände auszubessern. Er war glücklich über jeden Regentag, weil er dann ohne Gewissensbisse zu Hause bleiben und
Weitere Kostenlose Bücher