Der Menschen Hoerigkeit
worden; und Philip, der mürrisch zuhörte, dachte bei sich, dass er nur einmal Lärm gemacht hatte und dass sein Onkel vor- oder nachher sehr gut hätte schlafen können. Als Mrs. Carey um Aufklärung bat, erzählte der Vikar, was sich zugetragen hatte.
»Und er hat nicht einmal gesagt, dass es ihm leidtut«, schloss er.
»O Philip, es tut dir doch sicherlich leid«, rief Mrs. Carey, ängstlich darauf bedacht, dass das Kind keinen ungezogeneren Eindruck auf seinen Onkel machte als nötig.
Philip antwortete nicht. Er fuhr fort, an seinem Butterbrot zu kauen. Er wusste nicht, welche Kraft ihn in seinem Innern davon abhielt, auch nur ein Wort des Bedauerns zu sagen. Er fühlte seine Ohren brennen, die Tränen stiegen ihm in den Hals, aber keine Silbe kam über seine Lippen.
»Mit Trotz machst du es nur noch schlimmer«, sagte Mrs. Carey.
Schweigend wurde die Mahlzeit beendet. Mrs. Carey sah Philip ab und zu verstohlen an, der Vikar aber würdigte ihn keines Blickes. Als er schließlich aufstand, um sich für die Kirche fertigzumachen, ging Philip in die Halle und holte sich Hut und Mantel. Doch der Vikar hielt ihn zurück:
»Ich wünsche nicht, dass du in die Kirche kommst, Philip. Du bist heute nicht würdig, das Haus Gottes zu betreten.«
Philip sagte kein Wort. Er empfand es als eine tiefe Demütigung, und seine Wangen wurden rot. Still stand er da und sah zu, wie der Onkel sich seinen breiten Hut aufsetzte und in den voluminösen Mantel schlüpfte. Mrs. Carey begleitete ihn wie gewöhnlich bis zur Tür. Dann wandte sie sich Philip zu.
»Mach dir nichts daraus, Philip. Nächsten Sonntag bist du brav, nicht wahr, und dann nimmt dich dein Onkel am Abend wieder mit zur Kirche.«
Sie zog ihm Hut und Mantel aus und führte ihn ins Speisezimmer.
»Sollen wir miteinander den Gottesdienst lesen, Philip? Nachher singen wir auch die Hymnen zum Harmonium. Ja?«
Philip schüttelte energisch den Kopf. Mrs. Carey war bestürzt. Wenn er nicht mit ihr den Gottesdienst lesen wollte, was sollte sie dann mit ihm anfangen?
»Was möchtest du denn sonst tun bis zur Rückkehr deines Onkels?«, fragte sie hilflos.
Philip brach endlich sein Schweigen.
»Ich will, dass man mich in Ruhe lässt«, stieß er hervor.
»Philip, wie kannst du so etwas Unfreundliches sagen? Weißt du nicht, dass Onkel William und ich nur dein Bestes wollen? Hast du mich denn gar nicht lieb?«
»Nein, ich hasse dich. Ich wollte, du wärst tot.«
Mrs. Carey war wie vom Blitz getroffen. Er hatte die Worte so wild hervorgebracht, dass sie zutiefst erschrak. Sie fand keine Antwort. Sie setzte sich in den Stuhl ihres Mannes, und als sie nun darüber nachdachte, wie innig sie gewünscht hatte, den einsamen, verkrüppelten Jungen zu lieben und auch seine Zuneigung zu gewinnen – sie war eine unfruchtbare Frau, und obgleich sie Gottes Willen ohne zu murren hinnahm, konnte sie es manchmal kaum ertragen, kleine Kinder anzusehen, das Herz tat ihr so weh –, stiegen ihr die Tränen in die Augen und rollten langsam über ihre Wangen. Philip starrte sie betroffen an. Sie zog ihr Taschentuch hervor und weinte hemmungslos. Mit einem Male wurde Philip klar, dass sie über das weinte, was er gesagt hatte, und es tat ihm leid. Still trat er zu ihr hin und küsste sie. Es war der erste Kuss, den er ihr unaufgefordert gab. Und die arme Frau, so winzig in ihrem schwarzen Seidenkleid, verhutzelt, blass, mit ihren komischen Korkenzieherlocken, nahm den kleinen Jungen auf ihren Schoß, legte die Arme um ihn und weinte, als ob ihr das Herz brechen wollte. Und doch war sie glücklich, denn sie fühlte, dass nun die Fremdheit zwischen ihnen gewichen war. Sie liebte ihn jetzt mit einer neuen Liebe, weil sie um ihn gelitten hatte.
9
Am folgenden Sonntag, als der Vikar seine Anstalten traf, sich zum Mittagsschläfchen in den Salon zu begeben – jede Handlung seines Lebens hatte ihr Zeremoniell –, und Mrs. Carey sich gerade zurückziehen wollte, fragte Philip:
»Was soll ich tun, wenn ich nicht spielen darf?«
»Kannst du nicht auch einmal stillsitzen und ruhig sein?«
»Ich kann nicht bis zum Tee stillsitzen.«
Mr. Carey schaute aus dem Fenster, doch es war kalt und rauh, und er konnte Philip nicht vorschlagen, in den Garten zu gehen.
»Ich weiß, was du tun kannst. Du lernst die Kollekte für den Tag auswendig.«
Er nahm das Gebetbuch vom Harmonium und blätterte darin, bis er die Stelle fand, die er suchte.
»Sie ist nicht lang. Wenn
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