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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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mit Eiweiß und Leimtiegel das Juchtenleder irgendeines verwitterten Folianten zusammenflicken konnte. Er besaß viele Reisebücher mit Kupferstichen, und Mrs.   Carey hatte rasch zwei Bände über Palästina hervorgesucht. Vor der Tür hustete sie auffällig, um Philip Zeit zu geben, sich zu fassen, und hantierte mit der Klinke. Sie ahnte, dass er sehr beschämt sein würde, wenn sie seine Tränen sah. Als sie eintrat, war Philip in das Gebetbuch vertieft und hatte die Hände über die Augen gelegt, damit sie nicht merkte, dass er geweint hatte.
    »Hast du die Kollekte gelernt?«, fragte sie.
    Er antwortete nicht gleich, und sie erriet, dass er seiner Stimme nicht traute. Sie fühlte sich merkwürdig befangen.
    »Ich kann sie nicht auswendig lernen«, stieß er endlich hervor.
    »Ach, dann lass es einfach«, sagte sie. »Du brauchst es nicht. Ich habe dir ein paar Bilderbücher zum Anschauen gebracht. Komm, setz dich auf meinen Schoß. Wir wollen sie miteinander ansehen.«
    Philip glitt von seinem Sessel herunter und hinkte gesenkten Blickes zu ihr hin. Sie legte die Arme um ihn.
    »Schau«, sagte sie, »hier ist unser Heiland geboren worden.«
    Sie zeigte ihm eine morgenländische Stadt mit flachen Dächern und Kuppeln und Minaretten. Im Vordergrund stand eine Gruppe von Palmen, und unter diesen hielten zwei Araber und ein paar Kamele Rast. Philip ließ seine Hand über die Bilder gleiten, als wollte er die Häuser und die losen Gewänder der Nomaden betasten.
    »Bitte lies vor, was da steht«, bat er.
    Es war die romantische Schilderung eines Reisenden der dreißiger Jahre, pompös vielleicht, aber erfüllt von der Begeisterung, mit der die auf Byron und Chateaubriand folgende Generation den Orient aufgenommen hatte. Mrs. Carey las mit gleichmäßiger Stimme. Nach einer Weile unterbrach Philip sie.
    »Ich möchte noch ein Bild sehen.«
    Als Mary Ann hereinkam und Mrs.   Carey aufstand, um ihr beim Tischdecken zu helfen, nahm Philip das Buch an sich und vertiefte sich in die Illustrationen. Nur schwer konnte seine Tante ihn dazu bewegen, es beim Teetrinken beiseitezulegen. Die furchtbare Quälerei mit der Kollekte war vergessen, die Tränen waren vergessen. Am nächsten Tage regnete es, und er bat wiederum um das Buch. Mrs.   Carey gab es ihm mit Freuden. Es war ihr Wunsch, dass er eines Tages Geistlicher werden sollte, und nun fasste sie sein glühendes Interesse für die durch die Gegenwart Christi geheiligten Gegenden als günstiges Zeichen auf. Es schien, als neige sein Geist von Natur aus religiösen Dingen zu. Aber ein paar Tage später bat er um neue Bücher. Mr. Carey nahm ihn mit in sein Zimmer, zeigte ihm das Fach, in dem die illustrierten Werke standen. Er gab ihm eines über Rom. Philip griff begierig danach. Die Bilder wiesen ihm den Weg zu einem neuen Vergnügen. Er fing an, die Seiten vor und nach den Darstellungen zu lesen, um herauszufinden, worum es ging, und verlor bald jedes Interesse an seinen Spielsachen.
    Später suchte er sich selbst Bücher heraus, wenn niemand in der Nähe war. Am liebsten waren ihm Bücher über den Orient, vielleicht, weil eine morgenländische Stadt den ersten Eindruck auf ihn gemacht hatte. Sein Herz schlug vor Aufregung, wenn er die Moscheen und die prunkvollen Paläste sah; aber unter all den Büchern gab es eines über Konstantinopel, das seine Phantasie besonders beschäftigte. Es hieß Die Halle der tausend Säulen. Darin ging es um eine byzantinische Grotte, der in den Volkssagen eine ungeheure Ausdehnung zugeschrieben wurde; die Legende, die er las, erzählte davon, dass vor dem Eingang zur Grotte immer ein Boot gelegen habe, um die Unbedachten in Versuchung zu führen, aber kein Reisender, der sich in die Finsternis hineingewagt habe, sei je zurückgekehrt. Philip hätte gerne gewusst, ob das Boot endlos durch Säulenhallen gefahren war oder irgendwann ein fremdartiges Schloss erreicht hatte.
    Eines Tages widerfuhr Philip ein großes Glück: Die Übersetzung Lanes von Tausendundeine Nacht fiel ihm in die Hände. Anfangs waren es die Illustrationen, die ihn fesselten, aber bald fing er an zu lesen: zuerst die Märchen über die Magie und dann die andern Geschichten; und die, die ihm gefielen, las er immer und immer wieder. Er konnte an nichts anderes mehr denken. Er vergaß das Leben um sich her. Man musste ihn zwei-, dreimal rufen, ehe er zum Essen kam. Unversehens machte er sich die genussreichste Gewohnheit zu eigen, die es auf der Welt gibt, die

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