Der Menschen Hoerigkeit
ihr am nächsten Tage, schickte ihr eine Fünfpfundnote und erwähnte am Ende des Briefes, dass er, wenn sie lieb und brav wäre und ihn gern sehen möchte, zum nächsten Wochenende nach Brighton kommen würde; aber sie sollte deswegen um Himmels willen keine Pläne umwerfen, die sie vielleicht schon gemacht habe. Er wartete voll Ungeduld auf ihre Antwort. Sie schrieb darin, dass sie, wenn sie es nur früher gewusst hätte, sich darauf eingestellt hätte, nun aber bereits zugesagt habe, am Samstagabend zu einem Varieté zu gehen; außerdem würden die Leute in der Pension darüber reden, wenn er dort wohnte. Warum er denn nicht am Sonntag käme und tagsüber bliebe? Sie könnten im Metropol essen, und sie würde nachher mit ihm zu der sehr feinen Dame gehen, die das Kind nehmen wollte.
Sonntag. Er segnete den Tag, weil schönes Wetter war. Als der Zug sich Brighton näherte, strahlte die Sonne durch das Fenster seines Abteils. Mildred erwartete ihn auf dem Bahnsteig.
»Wie nett von dir, dass du mich abholst!«, rief er und ergriff ihre Hände.
»Das hast du doch erwartet, nicht wahr?«
»Gehofft, ja. Wie gut du aussiehst!«
»Es hat mir mächtig gutgetan; aber ich glaube, es ist klug, wenn ich so lange hierbleibe, wie ich nur kann. Und die Leute in der Pension, das sind sehr feine Leute. Ich brauchte ein bisschen Aufheiterung, nachdem ich die ganzen Monate lang niemanden gesehen hatte. Es war manchmal langweilig.«
Sie sah mit ihrem neuen Hut sehr elegant aus. Es war ein großer, schwarzer, mit einer Menge billiger Blumen garnierter Strohhut, und um den Hals floss ihr eine lange Boa von nachgemachten Schwanendaunen. Sie war noch immer sehr dünn und ging ein bisschen vornübergebeugt (das hatte sie immer getan); aber ihre Augen schienen nicht mehr so groß, und obwohl sie niemals Farbe im Gesicht gehabt hatte, hatte ihre Haut doch wenigstens das erdige Aussehen verloren. Sie gingen zum Meer hinunter. Philip, dem einfiel, dass er seit Monaten nicht mehr mit ihr spazieren gegangen war, wurde plötzlich wieder bewusst, dass er hinkte. Er ging steifbeinig, um diese Tatsache zu verstecken.
»Freust du dich, dass ich da bin?«, fragte er, das Herz voll überquellender Liebe.
»Natürlich; das brauchst du doch nicht erst zu fragen.«
»Übrigens, Griffith lässt dich herzlich grüßen.«
»Was für eine Unverschämtheit!«
Er hatte ihr häufig von Griffith erzählt. Er hatte ihr gesagt, dass dieser gern flirtete, und hatte sie oft mit den Abenteuern unterhalten, die Griffith ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut hatte. Mildred hatte, manchmal mit scheinbarer Empörung, meist jedoch voll Neugier, zugehört, und Philip hatte dann voll Bewunderung das gute Aussehen und den Charme seines Freundes noch übertrieben.
»Du wirst ihn bestimmt so gernhaben wie ich. Er ist so vergnügt und amüsant und ein furchtbar netter Kerl.« Philip erzählte ihr, wie Griffith ihn, als sie sich noch überhaupt nicht kannten, während einer Krankheit gepflegt hatte. Er ließ in der Erzählung nichts aus, was Griffiths Selbstaufopferung ins rechte Licht rückte. »Ich kann mir nicht helfen, ich habe ihn gern.«
»Ich mag hübsche Männer nicht«, meinte Mildred. »Sie sind mir zu eingebildet.«
»Er möchte dich gern kennenlernen. Ich habe ihm schrecklich viel von dir erzählt.«
»Was denn?«, fragte Mildred.
Philip hatte niemanden, mit dem er über seine Liebe zu Mildred sprechen konnte, und so hatte er Griffith allmählich die ganze Geschichte seiner Beziehung zu ihr erzählt. Er beschrieb sie ihm an die fünfzig Mal. Er verweilte verliebt bei jeder Kleinigkeit ihrer Erscheinung. Und Griffith wusste ganz genau, wie ihre schmalen Hände geformt waren und wie weiß ihr Gesicht war; und er lachte über Philip, wenn er ihm von der Anmut ihrer dünnen blassen Lippen erzählte.
»Lieber Gott, was bin ich froh, dass ich die Dinge nicht so schwernehme wie du«, sagte er. »Das Leben wäre nicht lebenswert.«
Philip lächelte. Griffith wusste nicht, wie wunderbar es war, so irrsinnig verliebt zu sein, dass es wie Fleisch oder Wein war oder wie die Luft, die man atmete, oder wie etwas anderes, das für das Dasein wesentlich ist. Griffith wusste, dass Philip sich des Mädchens angenommen hatte, als sie das Kind bekam, und dass er nun mit ihr fortfahren wollte.
»Nun, ich muss schon sagen, du hast es verdient, etwas dafür zu bekommen«, bemerkte er. »Es muss dich eine Stange Geld gekostet haben. Du hast Glück, dass du
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