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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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dadurch, dass er immer mit Kranken zu tun hatte, die dem Gesunden eigene joviale Herablassung. Er gab seinen Patienten das Gefühl, als stünden sie vor einem vergnügten Schulmeister; ihre Krankheiten waren kleine, lächerliche Ungezogenheiten, die einen im Grunde mehr amüsierten als besorgten.
    Die Studenten sollten eigentlich täglich verfügbar sein, Fälle mit ansehen und dabei so viel Wissen auflesen, wie sie nur konnten; aber an den Tagen, an denen Philip zu assistieren hatte, waren die Pflichten ein wenig bestimmter. Zu jener Zeit bestand die poliklinische Abteilung des St.   Luke’s Hospital aus drei zusammenhängenden Räumen und einem großen dunklen Wartezimmer mit massiven Steinsäulen und langen Bänken. Hier warteten die Patienten, nachdem sie am Mittag ihre ›Karten‹ bekommen hatten; in langen Reihen, mit Flaschen und Salbentöpfen in der Hand, manche zerlumpt und schmutzig, andere ziemlich ordentlich, saßen sie im Halbdunkel, Männer und Frauen jeglichen Alters, auch Kinder; ein grauenhafter und unheimlicher Anblick. Es war wie eine bittere Zeichnung von Daumier. Alle Räume waren in der gleichen Farbe gestrichen, lachsfarben, mit einem hohen rotbraunen Sockel; über allem lag der Geruch von Desinfektionsmitteln, der sich im Verlauf des Nachmittags immer stärker mit den Gerüchen menschlicher Ausdünstung mischte. Der erste Raum war am größten, in der Mitte standen ein Tisch und ein Bürostuhl für den Arzt; an beiden Seiten daneben standen zwei kleinere, etwas niedrigere Tische. An einem saß der Anstaltsarzt und an dem andern der Assistent, der an dem Tag das ›Buch‹ zu führen hatte. Dieses Buch war ein dicker Band, in dem Name, Alter, Geschlecht und Beruf des Patienten eingetragen wurden und dann die Diagnose seiner Krankheit.
    Um halb eins kam der Anstaltsarzt, läutete und trug dem Portier auf, die alten Patienten hereinzuführen. Davon waren immer eine ganze Menge da, und man musste möglichst viele erledigen, ehe um zwei Uhr Dr.   Tyrell kam. Der Anstaltsarzt, mit dem Philip zu tun hatte, war ein flinkes Männchen, das sich seiner Wichtigkeit äußerst bewusst war: Die Assistenten behandelte er herablassend und nahm es ihnen sehr übel, wenn die älteren Studenten, die seinem Jahrgang angehört hatten, zu vertraulich waren und ihm nicht mit dem gehörigen Respekt für seine jetzige Stellung begegneten. Er machte sich an die Fälle. Ein Praktikant half ihm. Die Patienten strömten herein, die Männer zuerst. Chronische Bronchitis, »ein scheußlich beißender Husten« war das, worunter die meisten litten. Einer ging zum diensthabenden Arzt, der andere zum Assistenten, um seine Karte abzugeben: Wenn es ihnen besserging, wurden die Worte Rep. 14 daraufgeschrieben, und dann gingen sie mit ihren Fläschchen zur Krankenhausapotheke, um für die nächsten vierzehn Tage Medizin in Empfang zu nehmen. Manche alten Kunden wollten bleiben, damit der Arzt selbst sie sich ansehe, aber das gelang ihnen nur in den seltensten Fällen, und nur drei oder vier, deren Zustand Beachtung verlangte, wurden für ihn dabehalten.
    Dr.   Tyrell kam in seiner lebhaften Art mit schnellen Schritten herein. Er erinnerte ein bisschen an einen Clown, der mit dem Ruf »Da sind wir also wieder« in die Zirkusarena gesprungen kommt. Seine Haltung schien zu sagen: Was soll denn dieser Unsinn von wegen Kranksein? Das werden wir gleich in Ordnung bringen. Er nahm seinen Platz ein, fragte, ob von den alten Patienten welche da seien, die er ansehen müsse, und ließ sie schnell Revue passieren; während er sie scharf anblickte, sprach er über die Symptome, rief dem diensttuenden Arzt einen Witz zu (über den die Praktikanten alle lachten), der dann auch herzlich lachte, aber mit einer Miene, als wäre es eigentlich ziemlich unverschämt, dass die Praktikanten zu lachen wagten, bemerkte, dass es ein schöner oder ein heißer Tag sei, und läutete dem Diener, dass er neue Patienten hereinführen solle.
    Sie traten einer um den anderen ein und gingen zum Tisch hinüber, an dem Dr.   Tyrell saß. Da waren alte und junge Männer und solche in mittleren Jahren; die meisten kamen aus der Arbeiterklasse: Dockarbeiter, Bierkutscher, Fabrikarbeiter, Kellner; aber auch einige sorgfältig gekleidete höhergestellte Leute waren dabei, Geschäftsgehilfen, Buchhalter und ähnliche. Dr.   Tyrell war ihnen gegenüber argwöhnisch. Sie hatten sich manchmal schäbig angezogen, um arm auszusehen; aber er durchschaute solchen Betrug

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