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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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schnell, und weigerte sich manchmal, Leute zu behandeln, von denen er glaubte, dass sie gut und gern für medizinische Betreuung zahlen konnten. Frauen begingen die schlimmsten Verstöße in dieser Hinsicht, und sie machten es ungeschickter. Sie trugen zum Beispiel Rock und Mantel, die fast Lumpen waren, vergaßen aber, ihre Ringe abzulegen.
    »Wenn Sie Schmuck tragen können, können Sie sich auch einen Arzt leisten. Die Poliklinik ist eine Wohltätigkeitsanstalt«, erklärte Dr.   Tyrell.
    Er gab die Karte zurück und rief nach dem nächsten Fall.
    »Aber ich habe doch den Zulassungsschein bekommen!«
    »Ihr Zulassungsschein ist mir völlig egal; machen Sie, dass Sie rauskommen. Sie haben kein Recht, herzukommen und den wirklich Armen die Zeit zu stehlen.«
    Die Patientin zog sich grollend mit einem ärgerlichen Blick zurück.
    »Wahrscheinlich wird sie jetzt einen Brief über die grobe Missverwaltung der Polikliniken an die Zeitungen schreiben«, sagte Dr.   Tyrell lächelnd, während er dem nächsten Patienten die Papiere abnahm und ihn mit dem ihm eigenen scharf prüfenden Blick maß.
    Die meisten hatten das Gefühl, dass die Poliklinik eine Staatseinrichtung sei, die von ihren Steuern unterhalten werde; deshalb nahmen sie die Betreuung als ihr gutes Recht in Anspruch. Sie bildeten sich ein, dass der Arzt, der sie behandelte, gut dafür bezahlt werde.
    Dr.   Tyrell gab jedem seiner Praktikanten einen Fall zur Untersuchung. Der Praktikant nahm den Patienten in eines der inneren Zimmer mit; sie waren kleiner, in jedem stand eine Couch mit schwarzem Rosshaarbezug; er stellte dann jedem Patienten eine Reihe Fragen, untersuchte Lungen, Herz, Leber, trug die Notizen auf dem Karteiblatt ein, machte sich in Gedanken eine Diagnose zurecht und wartete, bis Dr.   Tyrell kam. Das tat er dann auch, von einer kleinen Gruppe Studenten umgeben, wenn er mit den Untersuchungen fertig war, und der Praktikant las ihm den Befund vor. Der Arzt stellte eine oder zwei Fragen und untersuchte dann den Patienten selbst. Gab es dabei etwas Interessantes zu hören, so legten die Studenten ihre Stethoskope an: Der Mann stand dann mit zweien oder dreien an der Brust und zwei andern am Rücken da, während der Rest ungeduldig wartete, um auch an die Reihe zu kommen. Der Patient war dann wohl ein bisschen verlegen, den meisten war es aber nicht unangenehm, der Mittelpunkt des allgemeinen Interesses zu sein: Er hörte verwirrt zu, was Dr.   Tyrell zungenfertig über seinen Fall vortrug. Zwei oder drei Studenten horchten noch mal ab, um das Rasseln oder Brummen zu hören, von dem der Arzt gesprochen hatte, dann durfte sich der Mann wieder anziehen.
    Nachdem dann die verschiedenen Fälle untersucht waren, ging Dr. Tyrell in den großen Raum zurück und setzte sich wieder an seinem Schreibtisch nieder. Er fragte irgendeinen Studenten, der zufällig in seiner Nähe stand, was er einem solchen Patienten, wie er ihn eben gesehen habe, verschreiben würde. Der Student erwähnte dann eine oder zwei Drogen.
    »So?«, sagte Dr.   Tyrell. »Zum mindesten originell. Und es scheint mir auch sorgfältig erwogen.«
    Das brachte die Studenten immer zum Lachen. Und dann verschrieb der Arzt mit einem vergnügten Lächeln über seinen eigenen Witz ein anderes Medikament als das, welches der Student vorgeschlagen hatte. Wenn einmal zwei völlig gleiche Fälle vorlagen und der Student dann die gleiche Behandlung vorschlug, die der Arzt beim Ersten angeordnet hatte, so dachte sich Dr.   Tyrell mit beachtlicher Geschicklichkeit etwas anderes aus. An Tagen, an denen er wusste, dass sie in der Apotheke alle Hände voll zu tun hatten und am liebsten die Arzneimittel ausgaben, die fertig vorrätig waren, nämlich die guten Krankenhausmixturen, die sich in jahrelanger Erfahrung bewährt hatten, vergnügte er sich manchmal damit, ein höchst umständliches Rezept auszuschreiben.
    »Wir müssen dem Apotheker ein bisschen was zu tun geben. Wenn wir nur immer ›mixt: alb‹ verschreiben, verlernt er alles.«
    Die Studenten lachten, und der Arzt sah in die Runde und freute sich über seinen Witz. Dann klingelte er und sagte dem Diener, der den Kopf hereinsteckte:
    »Die alten Frauen, bitte.«
    Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, schwatzte mit dem Anstaltsarzt, während der Diener die alten Patientinnen hereinführte. Sie kamen herein, lange Reihen von blutarmen Mädchen, mit Ponyfransen und bleichen Lippen, die ihre schlechte, ungenügende Nahrung nicht verdauen

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