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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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selten ein hübsches Mädchen. Die ältere Frau erzählte die Familiengeschichte: Vater und Mutter waren an Schwindsucht gestorben, außerdem auch ein Bruder und eine Schwester; sie waren die beiden Letzten, die übriggeblieben waren. Das Mädchen hatte in letzter Zeit gehustet und nahm ab. Sie zog die Bluse aus, und die Haut des Halses war zart wie Milch. Dr.   Tyrell untersuchte sie schweigend in seiner gewohnten schnellen Art; er forderte zwei oder drei Assistenten auf, ihre Stethoskope an eine bestimmte Stelle zu legen, die er ihnen mit dem Finger wies; dann durfte sich das Mädchen wieder anziehen. Die Schwester stand ein wenig abseits und sprach leise mit dem Arzt, damit das Mädchen nichts hörte. Ihre Stimme bebte vor Angst.
    »Sie hat es doch nicht, Herr Doktor, nicht wahr?«
    »Ich fürchte, dass daran kein Zweifel mehr sein kann.«
    »Sie war die Letzte. Wenn sie geht, habe ich niemanden mehr.«
    Sie fing an zu weinen, während der Arzt sie ernst anschaute; er dachte bei sich, dass auch sie krank sei, auch sie würde nicht alt werden. Das Mädchen drehte sich um und sah die Tränen ihrer Schwester. Sie verstand, was das bedeutete. Die Farbe wich aus ihrem schönen Gesicht, und die Tränen tropften ihr über die Wangen. Die beiden standen ein, zwei Augenblicke da und weinten still, und dann ging die Ältere, als hätte sie die gleichgültige Menge, die ihnen zusah, vergessen, zu ihr hin, nahm sie in die Arme und schaukelte sie zärtlich hin und her, als hielte sie ein Kind in den Armen.
    Als sie fort waren, fragte einer der Studenten:
    »Wie lange wird sie wohl noch durchhalten?«
    Dr.   Tyrell zuckte die Achseln.
    »Ihre Geschwister starben innerhalb von drei Monaten, nachdem sich die ersten Symptome gezeigt hatten. Bei ihr wird es ebenso sein. Wenn sie reich wäre, könnte man ihr vielleicht helfen. Aber man kann doch diesen Leuten nicht sagen, sie sollen nach St.   Moritz fahren. Man kann nichts für sie tun.«
    Einmal kam ein kräftiger Mann in den besten Jahren, weil ihm ständig etwas weh tat und ihm sein Klub-Arzt auch nicht weiterhelfen konnte. Die Diagnose lautete auch bei ihm auf Tod, nicht jener unvermeidliche Tod, der einen in Schrecken versetzte und doch erträglich war, weil die Wissenschaft davor hilflos war, sondern ein Tod, unvermeidbar nur deswegen, weil dieser Mann ein kleines Rad in der großen Maschine einer komplexen Zivilisation war und so wenig wie ein Automat die Möglichkeit hatte, seine Verhältnisse zu ändern. Vollkommene Ruhe war seine einzige Chance. Sein Arzt verlangte nichts Unmögliches.
    »Sie sollten eine leichtere Arbeit verrichten.«
    »In meiner Branche gibt es keine leichten Arbeiten.«
    »Wenn Sie aber so weitermachen, werden Sie sich umbringen. Sie sind schwer krank.«
    »Wollen Sie damit sagen, dass ich sterben werde?«
    »Ich würde es nicht so ausdrücken, aber Sie sind zweifellos für harte Arbeit ungeeignet.«
    »Wer soll meine Frau und meine Kinder ernähren, wenn ich nicht arbeite?«
    Dr.   Tyrell zuckte mit den Schultern. Vor diesem Dilemma hatte er schon hundertmal gestanden. Die Zeit drängte, und er hatte noch viele Patienten abzufertigen.
    »Gut, ich gebe Ihnen eine Medizin, und Sie können in einer Woche wiederkommen und mir sagen, wie es Ihnen geht.«
    Der Mann nahm das Rezept, auf dem die nutzlose Arznei geschrieben stand, und ging hinaus. Was auch immer der Arzt sagte, er fühlte sich nicht so schlecht, dass er nicht weiter arbeiten gehen konnte. Er hatte einen guten Posten und konnte es sich nicht leisten, diesen einfach aufzugeben.
    »Ich gebe ihm ein Jahr«, sagte Dr.   Tyrell.
    Manchmal war das Ganze aber auch eine Komödie. Hin und wieder wurden sie mit Cockney-Humor konfrontiert, ab und an amüsierte sie eine alte Dame mit einer Geschwätzigkeit, wie sie Charles Dickens erfunden haben könnte. Einmal kam eine Frau, die dem Ballett eines berühmten Varietés angehörte. Sie sah wie fünfzig aus, gab aber ihr Alter mit achtundzwanzig an. Sie war übertrieben geschminkt und blickte die Studenten mit ihren großen schwarzen Augen unverschämt an. Ihr Lächeln war sehr herausfordernd. Sie war reichlich selbstbewusst und behandelte Dr.   Tyrell mit der gleichen oberflächlichen Vertrautheit wie einen betrunkenen Verehrer. Sie hatte chronische Bronchitis und sagte ihm, diese hindere sie, ihren Beruf auszuüben.
    »Ich weiß nicht, woher ich das habe, ich weiß es wirklich nicht, ich schwöre es Ihnen. Nie in meinem Leben bin ich krank gewesen.

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