Der Menschen Hoerigkeit
konnten; alte Damen, fette und magere, durch häufige Schwangerschaften vorzeitig Gealterte, Erkältete, solche, denen dieses und jenes oder sonst was fehlte. Dr. Tyrell und der Anstaltsarzt wurden schnell damit fertig. Die Zeit war schon vorgeschritten, und die Luft in dem kleinen Raum wurde immer stickiger. Der Arzt sah auf seine Uhr.
»Sind heute viele neue Frauen da?«, fragte er.
»Eine ganze Menge, glaube ich«, sagte der Anstaltsarzt.
»Dann lassen wir sie am besten hereinkommen. Sie können die alten allein übernehmen.«
Sie traten ein. Bei den Männern kamen die meisten Beschwerden von zu viel Alkohol, bei den Frauen aber meistens aus Unterernährung. Gegen sechs Uhr waren sie fertig. Philip war durch das stundenlange Stehen, die schlechte Luft und durch die angespannte Aufmerksamkeit völlig erschöpft und schlenderte nun mit seinen Kollegen zur Medical School zurück, um dort Tee zu trinken.
Philip fand die Arbeit unglaublich interessant. Hier war das Menschengeschlecht im Groben, das Material, aus dem die Künstler schöpften, und es war ein eigenartig erregendes Gefühl für Philip, dass er sich in der Lage des Künstlers befand und die Patienten Ton in seinen Händen waren. Er erinnerte sich mit amüsiertem Achselzucken seines Lebens in Paris, das ganz von Farbe, Ton und Lichtwerten erfüllt war, mit dem Ziel, schöne Dinge zu erschaffen. Dieser direkte Kontakt mit Männern und Frauen gab ihm ein erregendes Gefühl der Macht, wie er es noch nie gekannt hatte. Es war immer von neuem interessant, ihre Gesichter zu betrachten und ihnen zuzuhören. Jeder hatte seine eigene Art einzutreten; manche kamen ungeschlacht hereingeschlurft, manche mit trippelnden Schrittchen, andere mit schweren, langsamen Schritten, wieder andere ganz schüchtern. Oft konnte man ihren Beruf aus ihrem Aussehen erraten. Man lernte, wie man ihnen die Frage vorlegen musste, damit sie sie verstanden; man entdeckte, bei welchen Dingen fast alle logen und wie man weiterforschen musste, um doch die Wahrheit aus ihnen herauszubekommen. Man sah, wie verschiedene Menschen auf die gleichen Sachen reagierten. Die Diagnose einer gefährlichen Krankheit wurde von dem einen mit Lachen und einem Witz, von einem andern mit dumpfer Verzweiflung aufgenommen. Philip fand heraus, dass er bei diesen Leuten hier weniger schüchtern war als sonst; es war nicht Mitleid, was er empfand, denn im Mitleid liegt eine gewisse Herablassung: Er fühlte sich einfach wie zu Hause bei ihnen. Er fand, dass er imstande war, ihnen jede Scheu zu nehmen, und wenn ihm ein Fall zur Prüfung übergeben wurde, so überließ sich der Patient mit sonderbarem Vertrauen seinen Händen.
›Vielleicht‹, so dachte er lächelnd, ›vielleicht bin ich wirklich der geborene Arzt. Es wäre schon ein Spaß, wenn ich zufällig gerade den einen Beruf ergriffen hätte, zu dem ich mich eigne.‹
Philip schien es, dass er der Einzige unter den Assistenten war, der das Dramatische dieser Nachmittage erkannte. Für die andern waren Frauen und Männer nur Fälle; gute Fälle, wenn sie kompliziert waren, langweilige, wenn der Sachverhalt auf der Hand lag; sie hörten Geräusche und wunderten sich über anomale Lebern; ein unerwartetes Geräusch in der Lunge lieferte ihnen Stoff zu Gesprächen.
Aber für Philip war es weit mehr. Er fand es interessant, die Menschen einfach nur anzusehen, ihre Kopfform, ihre Hände, ihren Blick und die Länge ihrer Nase. In diesem Raum überraschte man die menschliche Natur, die Maske der Gewohnheit wurde ihr oft gewaltsam abgerissen, so dass die nackte Seele sich zeigen musste. Manchmal traf man auf einen nicht nur angelernten Stoizismus, der einen tief bewegte. Einmal sah Philip einen rauhen und ungebildeten Mann, der sich dermaßen in der Gewalt hatte, als man ihm sagte, sein Fall sei hoffnungslos, dass Philip über den großartigen Urtrieb staunte, der diesen Menschen zwang, vor Fremden in seinem Unglück aufrecht zu bleiben. Würde er auch dann noch tapfer sein können, wenn er allein war, Auge in Auge mit seiner Seele, oder würde er dann der Verzweiflung nachgeben? Manchmal gab es auch Tragödien. Einmal brachte eine junge Frau ihre Schwester zur Untersuchung; es war ein Mädchen von achtzehn Jahren, mit zarten Gesichtszügen, großen blauen Augen und blondem Haar, das golden schimmerte, wenn das Sonnenlicht es traf, und mit einer Haut von erstaunlicher Schönheit. Die Studenten sahen sie lächelnd an. In diesen finsteren Räumen traf man nur
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