Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
Vom Netzwerk:
Sie brauchen mich ja nur anzusehen.«
    Sie musterte die jungen Männer mit einem Augenaufschlag ihrer bemalten Lider und fletschte ihre gelben Zähne. Sie sprach mit Cockney-Akzent, aber mit einer gekünstelten Vornehmheit, die jedes Wort zu einer Quelle von Heiterkeit werden ließ.
    »Sie haben einen sogenannten Winterhusten«, antwortete Dr.   Tyrell ernst. »Viele Frauen im mittleren Alter haben ihn.«
    »Ich aber noch nie. Das ist übrigens eine nette Art einer Dame gegenüber. Noch nie zuvor hat mir jemand gesagt, ich sei im mittleren Alter.«
    Sie riss ihre Augen weit auf, hielt ihren Kopf schräg und sah ihn mit einem unbeschreiblichen Schalk in den Augen an.
    »Das ist der Nachteil unseres Berufes«, sagte er. »Er zwingt uns manchmal, ungalant zu sein.«
    Sie nahm das Rezept und sah ihn noch einmal mit einem süßen Lächeln an.
    »Werden Sie kommen, um mich tanzen zu sehen, mein Lieber?«
    »Bestimmt.«
    Er klingelte nach dem nächsten Patienten.
    »Ich bin froh, dass Sie, meine Herren, hier sind, um mich zu beschützen.«
    Insgesamt aber war der Eindruck weder tragisch noch komisch. Er ließ sich schlecht beschreiben. Es war vielfältig und abwechslungsreich; es gab Tränen, Lachen, Glück und Weh; es war scheußlich, interessant und gleichgültig, es war so, wie man es nahm; es war heftig und leidenschaftlich, es war ernst, es war traurig und komisch, es war trivial, es war einfach und kompliziert. Freude gab es und Verzweiflung, Liebe der Mütter zu ihren Kindern, von Männern zu Frauen, mit bleiernen Füßen schleppte sich die Lust durch die Räume, suchte Schuldige und Unschuldige heim, hilflose Frauen und elende Kinder. Trunksucht ergriff Männer und Frauen, und der Preis dafür musste unweigerlich bezahlt werden; der Tod ächzte in diesen Räumen, und keimendes Leben, das manches arme Mädchen mit Entsetzen und Schande erfüllte, wurde hier festgestellt. Hier gab es weder Gut noch Böse. Nur Tatsachen. Das Leben selbst.
    82
     
    Gegen Ende des Jahres, als Philip sich dem Abschluss seiner dreimonatigen Assistentenzeit in der ambulanten Abteilung näherte, bekam er einen Brief von Lawson aus Paris:
Lieber Philip!
Cronshaw ist in London und möchte Dich gerne sehen. Er wohnt in der Hyde Street, Nr.   43, Soho. Ich weiß nicht, wo das ist, aber Du wirst es schon finden. Sei so gut und schau mal ein bisschen nach ihm. Er hatte Pech. Er wird Dir selbst sagen, was er macht. Hier ist alles wie immer. Es scheint sich nichts verändert zu haben, seit Du hier warst. Clutton ist zurück, aber er ist ganz unmöglich geworden. Er hat sich mit jedem gestritten. Soweit ich sehen kann, hat er keinen Cent; er lebt in einem kleinen Atelier gleich hinter dem Jardin des Plantes, aber zeigt keinem Menschen seine Arbeiten. Er stellt nirgendwo aus, folglich weiß man auch nicht, was er tut. Es kann ja sein, dass er ein Genie ist, aber ebenso gut kann er auch einfach verrückt sein. Übrigens bin ich neulich Flanagan begegnet. Er führte gerade Mrs.   Flanagan im Quartier herum. Er hat die Kunst an den Nagel gehängt und ist jetzt im Knopf-Geschäft seines Vaters. Er scheint in Geld zu schwimmen. Mrs.   Flanagan ist sehr niedlich, und ich versuche mich an einem Porträt von ihr. Wie viel würdest Du an meiner Stelle dafür verlangen? Ich möchte sie nicht abschrecken, aber andererseits möchte ich nicht hundertfünfzig Pfund verlangen, wenn sie ihrerseits vielleicht bereit wären, dreihundert zu zahlen.
Immer Dein
Frederick Lawson
    Philip schrieb an Cronshaw und erhielt folgenden Brief als Antwort. Er war auf einem Notizblatt geschrieben, und der dünne Umschlag war schmutziger, als er es allein von einer Postreise hätte sein dürfen.
Lieber Carey!
Natürlich erinnere ich mich sehr gut an Sie. Ich glaube, ich habe einmal geholfen, Sie aus dem Sumpf der Verzweiflung zu retten, in dem ich selbst nun hoffnungslos versinke. Es würde mich freuen, Sie wiederzusehen. Ich bin ein Fremdling in fremder Stadt und werde von den Philistern herumgeschubst. Es wäre nett, von Paris zu reden. Ich lade Sie nicht zu mir ein, denn meine Wohnung hat nicht die Pracht, die für den Empfang eines hervorragenden Angehörigen des Berufes von Monsieur Purgon angemessen wäre. Sie können mich jedoch jederzeit zwischen sieben und acht beim bescheidenen Mahl im Restaurant zum sogenannten ›Au Bon Plaisir‹ in der Dean Street treffen.
Ergebenst Ihr
J. Cronshaw
    Philip ging noch am gleichen Tag, an dem er diesen Brief erhalten hatte, hin. Das

Weitere Kostenlose Bücher