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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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Restaurant, das aus einem kleinen Raum bestand, gehörte zur armseligsten Klasse, und Cronshaw schien der einzige Kunde dort zu sein. Er saß in der Ecke, möglichst weit von jeder Zugluft entfernt, trug den gleichen schäbigen Mantel, ohne den Philip ihn noch nie gesehen hatte, und hatte seine alte Melone auf dem Kopf.
    »Ich esse hier, weil ich hier allein sein kann«, sagte er. »Das Geschäft geht nicht gut; die einzigen Gäste sind ein paar Schlampen und ein oder zwei arbeitslose Kellner, und das Essen ist abscheulich. Aber dass es so heruntergekommen ist, ist mein Vorteil.«
    Cronshaw hatte ein Glas Absinth vor sich. Fast drei Jahre waren vergangen, seit sie sich zuletzt gesehen hatten, und Philip war entsetzt über die Veränderungen in Cronshaws Erscheinung. Er war ziemlich korpulent gewesen, aber jetzt hatte er ein vertrocknetes gelbliches Aussehen; die Haut am Nacken war schlaff und voller Runzeln; die Kleider hingen an ihm, als wären sie für jemand anderen gekauft worden, und sein Kragen, der drei oder vier Nummern zu groß für ihn war, vervollständigte die Liederlichkeit seiner Erscheinung. Seine Hände zitterten fortwährend. Philip fiel die Handschrift ein, die in formlosen Buchstaben aufs Geratewohl über die Seite hingekritzelt war. Cronshaw war offensichtlich sehr krank.
    »Ich esse sehr wenig in letzter Zeit«, sagte er. »Mir ist des Morgens immer übel. Ich nehme nur etwas Suppe zum Abendessen, und dann lasse ich mir ein bisschen Käse geben.«
    Philips Augen streiften unwillkürlich das Glas Absinth, und Cronshaw, der es sah, warf ihm einen höhnischen Blick zu, der die Belehrung durch den gesunden Menschenverstand deutlich zurückwies.
    »Sie sind mit der Diagnose meines Falles fertig, und Sie meinen, es ist falsch von mir, Absinth zu trinken.«
    »Sie haben offensichtlich eine Leberzirrhose«, sagte Philip.
    »Offensichtlich.«
    Er sah Philip mit einem Blick an, unter dem sich dieser früher sehr klein gefühlt hätte. Er schien zu sagen, dass das, was er da dachte, allerdings sehr offensichtlich war, und wenn man über dieses Offensichtliche einig war, was blieb da noch zu bemerken? Philip wechselte das Gesprächsthema.
    »Wann gehen Sie nach Paris zurück?«
    »Ich werde überhaupt nicht nach Paris zurückgehen. Ich werde sterben.«
    Die Natürlichkeit, mit der er das sagte, erschreckte Philip. Ein halbes Dutzend Entgegnungen fielen ihm ein, aber sie schienen so sinnlos. Er wusste, dass Cronshaw ein Todeskandidat war.
    »Sie wollen sich also in London niederlassen?«, fragte er lahm.
    »Was bedeutet mir schon London? Ich bin wie ein Fisch auf dem Trockenen; ich gehe durch die belebten Straßen, die Leute stoßen mich, und doch ist mir, als wanderte ich durch eine tote Stadt. Ich fühlte, dass ich in Paris nicht sterben konnte. Ich wollte unter meinen eigenen Leuten sterben. Ich weiß nicht, was für ein verborgener Instinkt mich noch zu guter Letzt zurückgetrieben hat.«
    Philip wusste von der Frau, mit der Cronshaw zusammengelebt hatte, und von den schlampigen Kindern; Cronshaw hatte sie jedoch ihm gegenüber nie erwähnt, und deshalb mochte er auch jetzt nicht nach ihnen fragen. Was wohl aus ihnen geworden war?
    »Ich weiß nicht, warum Sie vom Sterben reden«, sagte er.
    »Vor einigen Wintern hatte ich eine Lungenentzündung, und damals hat man mir gesagt, es sei ein Wunder, dass ich durchgekommen sei. Ich scheine dafür besonders anfällig zu sein; noch ein Anfall, und ich bin erledigt.«
    »Ach, das ist Unsinn! So schlimm steht es nicht um Sie. Sie müssen nur vorsichtig sein. Warum hören Sie nicht mit dem Trinken auf?«
    »Weil ich keine Lust dazu habe. Es ist gleichgültig, was jemand tut, solange er bereit ist, die Konsequenzen zu tragen. Nun, ich bin bereit, die Folgen auf mich zu nehmen. Sie sagen das so einfach, das Trinken aufgeben; es ist aber das Einzige, was mir noch geblieben ist. Was glauben Sie denn, wäre das Leben sonst noch für mich? Können Sie das Glück verstehen, das ich durch meinen Absinth bekomme? Ich schmachte danach, und wenn ich ihn trinke, genieße ich jeden Tropfen, und hinterher schwimmt meine Seele in unaussprechlicher Seligkeit. Es ekelt Sie an. Sie sind ein Puritaner, und in Ihrem Herzen verachten Sie Sinnesgenüsse. Die sinnlichen Freuden sind jedoch die heftigsten und köstlichsten. Ich bin ein Mensch, der mit lebhaften Sinnen gesegnet ist, und ich habe sie mit ganzer Seele ausgekostet. Jetzt habe ich die Strafe dafür zu zahlen, und ich bin

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