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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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gespielt. Man musste seine Feder mit dem Fingernagel vorwärtsschnellen und versuchen, ihre Spitze über die Feder des andern zu manövrieren; war dies erreicht, hauchte der Gewinner auf seinen Daumenballen und presste ihn mit aller Kraft auf die Federn; gelang es ihm dann, beide zugleich aufzuheben, ohne eine fallen zu lassen, dann gehörten die Federn ihm. Bald sah man nichts anderes als Kinder, die in dieses Spiel vertieft waren. Die geschickten Jungen rafften große Vorräte an Federn zusammen. Aber nach einiger Zeit erklärte Mr.   Watson, dass ›Nibs‹ eine Art von Glücksspiel sei, verbot es und konfiszierte alle Federn. Philip war sehr geschickt gewesen und gab seine Gewinne nur schweren Herzens ab; aber es juckte ihn in den Fingern weiterzuspielen, und ein paar Tage später ging er auf dem Weg zum Fußballplatz in einem Laden vorbei und kaufte ein paar Federn. Er trug sie lose in der Tasche und freute sich ihres Besitzes. Auf einmal entdeckte Singer sein Geheimnis. Auch er hatte seine Federn abgeben müssen, aber eine große, ›Jumbo‹ genannt, die so gut wie unbesiegbar war, zurückbehalten. Nun konnte er der Versuchung nicht widerstehen, Philip seine Federn abzunehmen. Obgleich Philip wusste, dass er mit seinen kleinen Geschossen im Nachteil war, brachte er es nicht über sich, die Herausforderung abzulehnen; abgesehen davon war ohnehin klar, dass Singer eine Weigerung nicht geduldet hätte. Er hatte eine Woche nicht gespielt und setzte sich voll prickelnder Erwartung hin. Sehr rasch verlor er zwei Federn, und Singer triumphierte; aber beim dritten Mal glitt die ›Jumbo‹ durch irgendeinen Zufall daneben, und es gelang Philip, sie mit seiner zu decken. Er krähte vor Siegesfreude. In diesem Augenblick kam Mr.   Watson herein.
    »Was macht ihr hier?«, fragte er.
    Er blickte von Singer zu Philip, erhielt aber keine Antwort.
    »Habe ich euch nicht verboten, dieses idiotische Spiel zu spielen?«
    Philips Herz schlug schnell. Er wusste, was ihn erwartete, und fürchtete sich entsetzlich, aber in seine Angst mischte sich ein gewisses Frohlocken. Er war noch nie geprügelt worden. Natürlich würde es weh tun, ja – aber dann hätte er etwas, womit er sich brüsten konnte.
    »Kommt in mein Zimmer.«
    Der Direktor drehte sich um, und sie folgten ihm Seite an Seite. Singer flüsterte Philip zu:
    »Jetzt geht es uns an den Kragen.«
    Mr.   Watson zeigte auf Singer.
    »Leg dich hin.«
    Philip, sehr bleich, sah den Jungen bei jedem Streich erbeben, und nach dem dritten hörte er ihn laut aufheulen. Es folgten noch drei weitere.
    »Das genügt. Steh auf.«
    Singer stand auf, Tränen strömten ihm übers Gesicht. Philip trat vor. Mr.   Watson blickte ihn einen Augenblick an.
    »Dir will ich die Hiebe erlassen. Du bist neu. Und einen Krüppel kann ich nicht schlagen. Geht nun, ihr beiden, und seid mir nicht wieder unartig.«
    Als sie in das Schulzimmer zurückkehrten, wurden sie von einer Gruppe von Jungen erwartet, die auf rätselhafte Weise erfahren hatten, was vorgefallen war. Sie bestürmten Singer sofort mit aufgeregten Fragen. Er stand mitten unter ihnen, das Gesicht vor Schmerz gerötet, auf den Wangen noch die Spuren von Tränen; mit dem Kopf wies er auf Philip, der hinter ihm stand.
    »Er ist freigekommen, weil er ein Krüppel ist«, sagte er böse.
    Philip stand stumm da und errötete. Er hatte das Gefühl, alle blickten ihn mit Verachtung an.
    »Wie viele hast du bekommen?«, fragte einer Singer.
    Aber er antwortete nicht. Er war wütend, weil er geschlagen worden war.
    »Frag mich bloß nicht mehr, ob ich Nibs mit dir spiele«, sagte er zu Philip. »Für dich ist es ein feiner Spaß, für dich ist es ja nicht gefährlich.«
    »Ich habe dich nicht gefragt.«
    »Ah nein?«
    Schnell trat er Philip mit dem Fuß. Philip stand immer etwas wacklig und stürzte schwer zu Boden.
    »Krüppel«, zischte Singer.
    Das ganze übrige Schuljahr wurde Philip von Singer auf das grausamste gequält, mochte er ihm aus dem Wege gehen, so viel er wollte. Die Schule war zu klein, um Zusammenstöße zu vermeiden. Philip versuchte freundlich und nett zu ihm zu sein; er erniedrigte sich sogar so weit, ihm ein Messer zu kaufen; aber obgleich Singer das Messer annahm, war er nicht zu besänftigen. Das ein oder andere Mal ließ sich Philip dazu hinreißen, ihn zu schlagen; aber Singer war so viel stärker, dass Philip nichts gegen ihn ausrichten konnte. Jedes Mal wurde er so lange gequält, bis er schließlich um Verzeihung

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