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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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bat. Das machte Philip am meisten zu schaffen: die Erniedrigung einer Entschuldigung, die ihm durch unerträglichen Schmerz abgerungen wurde. Und ein Ende dieses Elends war gar nicht abzusehen; Singer war elf Jahre alt und konnte erst mit dreizehn in die Oberschule aufrücken. Philip musste also noch zwei volle Jahre mit einem Peiniger zusammenleben, vor dem es kein Entrinnen gab. Er fühlte sich nur dann glücklich, wenn er arbeitete oder im Bett lag. Und häufig kehrte jene merkwürdige Empfindung wieder, dass sein gegenwärtiges Leben bloß ein Traum sei und dass er eines Morgens in seinem kleinen Bett in London aufwachen würde.
    13
     
    Zwei Jahre vergingen, und Philip war nahezu zwölf Jahre alt. Er saß als zweit- oder drittbester Schüler in der obersten Klasse, und wenn nach Weihnachten einige Jungen in die Oberschule aufrückten, würde er Primus werden. Er hatte schon eine ganze Sammlung von Preisen, wertlose Bücher, auf schlechtem Papier gedruckt, mit umso prunkvolleren, mit dem Schulwappen geschmückten Einbänden; seine Stellung hatte ihn von den Rohheiten seiner Mitschüler befreit, und er war nicht mehr unglücklich. Seine Kameraden vergaben ihm seinen Erfolg, weil er einen verkrüppelten Fuß hatte.
    »Für ihn ist es keine Kunst, Preise zu bekommen«, sagten sie. »Er kann nichts anderes tun als büffeln.«
    Seine anfängliche Scheu vor Mr.   Watson hatte Philip überwunden. An die laute Stimme hatte er sich gewöhnt, und legte sich die schwere Hand des Direktors auf seine Schultern, dann begriff er, dass damit eine Liebkosung gemeint war. Er besaß das gute Gedächtnis, das für Schülererfolge ausschlaggebender ist als geistige Fähigkeiten, und wusste, dass Mr.   Watson von ihm erwartete, die Schule mit einem Stipendium zu verlassen.
    Aber er war sich seiner selbst bewusst geworden. Ein neugeborenes Kind weiß nicht, dass sein Körper viel mehr Teil von ihm ist als die Gegenstände, die es umgeben, und spielt mit seinen Zehen, als wären sie nicht ein Teil seiner selbst, sondern ein Spielzeug wie die Rassel in seiner Hand. Und nur allmählich, durch Schmerzen, gelangt es zu dem Verständnis seines Körpers. Ebenso bedarf es schmerzlicher Erfahrungen, um das Individuum zum Bewusstsein seiner selbst zu bringen; aber dabei gibt es einen Unterschied, denn obwohl sich jeder gleichermaßen seines Körpers bewusst wird als eines besonderen und abgeschlossenen Organismus, wird sich nicht jeder gleichermaßen seiner abgeschlossenen und besonderen Persönlichkeit bewusst. Das Gefühl, sich von den anderen abzuheben, bekommen die meisten während der Pubertät, aber es wird nicht immer bis zu einem solchen Grad entwickelt, dass dem Einzelnen der Unterschied zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft wahrnehmbar wird. Diejenigen, die sich ihrer selbst so wenig bewusst sind wie die Bienen innerhalb eines Schwarms, sind die Begünstigten, denn sie haben die besten Chancen, glücklich zu sein: Ihre Tätigkeiten sind die gleichen wie die der anderen, und ihre Vergnügungen sind nur Vergnügungen, weil sie gemeinschaftlich genossen werden; man kann sie am Pfingstmontag in Hampstead Heath tanzen, bei einem Fußballspiel schreien oder von den Fenstern in Pall Mall einer königlichen Parade Beifall spenden sehen. Ihretwegen wird der Mensch ein soziales Lebewesen genannt.
    Bei Philip vollzog sich der Übergang von kindlicher Unschuld zu bitterer Selbstbewusstheit durch den Spott, den ihm sein Klumpfuß eintrug. Sein Fall war so eigenartig, dass er nicht die vorgefertigten Regeln anwenden konnte, die im gewöhnlichen Leben so gut passten, sondern er war gezwungen, selbständig zu denken. Die vielen Bücher, die er gelesen und nur halb verstanden hatte, erfüllten sein Bewusstsein mit Ahnungen und ließen seiner Phantasie breiten Raum. Unter seiner qualvollen Schüchternheit fing etwas in seinem Inneren zu wachsen an, und dunkel wurde er sich seiner Persönlichkeit bewusst. Aber zuweilen bereitete sie ihm merkwürdige Überraschungen; er tat Dinge und wusste nicht, warum – und wenn er später über sie nachdachte, war er ratlos.
    In der Schule gab es einen Jungen namens Luard, mit dem Philip sich angefreundet hatte. Eines Tages, als sie im Schulzimmer miteinander spielten, fing Luard an, Kunststücke mit einem Federhalter aus Ebenholz zu vollführen, der Philip gehörte.
    »Lass diese Faxen«, sagte Philip. »Du machst ihn noch kaputt.«
    »Mache ich nicht.«
    Aber kaum waren diese Worte gesprochen, zerbrach der

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