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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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Federhalter in zwei Stücke. Luard blickte Philip bestürzt an.
    »Ach, das tut mir furchtbar leid.«
    Tränen rollten über Philips Wangen herab, aber er antwortete nicht.
    »Was hast du denn?«, fragte Luard erstaunt. »Ich besorge dir morgen genau den gleichen.«
    »Um den Federhalter geht es mir nicht«, antwortete Philip, und seine Stimme zitterte, »aber ich habe ihn von meiner Mutter bekommen, kurz bevor sie starb.«
    »Ach, verzeih, Carey, bitte.«
    »Es macht nichts. Du hast es ja nicht absichtlich getan.«
    Philip nahm die beiden Stücke in die Hand und betrachtete sie. Er bemühte sich, sein Schluchzen zu unterdrücken. Ihm war tieftraurig zumute. Und doch hätte er nicht sagen können, warum, denn er hatte sich den Federhalter während seines letzten Ferienaufenthaltes in Blackstable selbst gekauft. Er wusste gar nicht, warum er diese rührselige Geschichte erfunden hatte, aber er fühlte sich so unglücklich, als wenn sie wahr gewesen wäre. Die fromme Atmosphäre des Pfarrhauses und der religiöse Ton der Schule hatten Philips Gewissen sehr empfindlich gemacht; unbewusst hatte er den Glauben seiner Umgebung übernommen, dass der Versucher immer auf der Lauer liege, um ihm seine unsterbliche Seele zu rauben; und obgleich er nicht wahrheitsliebender war als die meisten Jungen, konnte er doch niemals lügen, ohne danach heftige Reue zu empfinden. Als er nun über das Geschehen nachdachte, war er sehr bestürzt und fasste schließlich den Vorsatz, zu Luard zu gehen und ihm die Wahrheit zu beichten. Obwohl es für ihn nichts Schrecklicheres auf der Welt gab als Demütigung, schwelgte er zwei, drei Tage in dem Gedanken an das berauschende Glück, sich zum Preise Gottes zu erniedrigen. Aber dabei ließ er es dann auch bewenden. Er beschwichtigte sein Gewissen durch die bequemere Methode, seine Reue bloß dem Allmächtigen gegenüber kundzutun. Indessen blieb es ihm völlig unverständlich, wieso ihn diese selbsterfundene Geschichte so tief hatte erschüttern können. Die Tränen auf seinen schmierigen Wangen waren wirkliche Tränen gewesen. Dann fiel ihm auf einmal jene Szene nach dem Tod seiner Mutter ein, als er trotz allen Kummers darauf bestanden hatte, zu Miss Watkin hineinzugehen, um sich von ihr und ihren Freundinnen zu verabschieden und sich von ihnen bemitleiden zu lassen.
    14
     
    Dann kam eine Zeit, da eine Welle von Religiosität durch die Schule ging. Schimpfworte wurden nicht mehr verwendet, und auf die unanständigen Ausdrücke der kleinen Jungen wurde mit Feindseligkeit reagiert; die größeren Jungen gebrauchten – wie die weltlichen Herrscher im Mittelalter – die Kraft ihrer Arme, um die Schwächeren von einer tugendhaften Lebensweise zu überzeugen.
    Philip, dessen ruheloser Geist nach Neuem suchte, wurde sehr fromm. Er hörte von einer Bibelgesellschaft, die Mitglieder warb, und schrieb nach London, um sich nach den Bedingungen zu erkundigen. Folgendes wurde verlangt: Der Bewerber musste ein Formular ausfüllen und Namen, Alter, Schule angeben; er musste sich feierlich verpflichten, ein Jahr hindurch jeden Abend einen bestimmten Teil der Heiligen Schrift zu lesen, und er musste zweieinhalb Shilling einsenden. Diese, so hieß es, wurden gefordert als Beweis der Ernsthaftigkeit des Bewerbers und zur Deckung von Vereinsspesen. Philip sandte pflichtschuldig die Papiere und das Geld ein und erhielt dafür einen Kalender im Wert von einem Penny, auf dem die jeweils zu lesende Bibelstelle angegeben war, und einen Bogen, dessen eine Seite ein Bild des göttlichen Hirten und eines Lammes zeigte, während auf der anderen Seite, dekorativ von roten Strichen eingerahmt, ein kurzes Gebet stand, das gesprochen werden sollte, ehe man zu lesen anfing.
    Jeden Abend zog sich Philip nun in großer Eile aus, um seine Lektüre erledigen zu können, ehe das Licht gelöscht wurde. Er las hingebungsvoll und ohne Kritik Geschichten von Grausamkeit, Verrat, Unehrlichkeit und niederer List. Handlungen, die im gewöhnlichen Leben sein Entsetzen erregt hätten, nahm er ohne inneren Widerspruch in sich auf, weil sie unter der unmittelbaren Eingebung Gottes begangen worden waren. Die Methode der Bibelgesellschaft bestand darin, immer ein Buch des Alten Testaments mit einem Buch des Neuen abzuwechseln, und eines Abends stieß Philip auf folgende Worte Jesu Christi:
Wenn einer zu dem Berge da sagt: Heb dich hinweg und stürz dich ins Meer! und er in seinem Herzen nicht zweifelt, sondern glaubt, dass sein Wort in

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