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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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Philip.
    Er sprang schnell ins Bett.
    »Bei mir gibt es kein Nein«, sagte Singer. »Komm, Mason.« Der Knabe im nächsten Abteil schaute um die Ecke und kam herüber. Beide stürzten sich auf Philip und versuchten, ihm die Decke fortzuziehen, aber er hielt sie fest.
    »Könnt ihr mich denn nicht in Ruhe lassen?«, rief er.
    Singer ergriff eine Bürste und schlug mit ihrem Rücken auf Philips festgekrallte Hände. Philip schrie auf.
    »Warum zeigst du uns nicht einfach deinen Fuß.«
    »Ich will nicht.«
    Verzweifelt ballte Philip seine Hand zur Faust und schlug den Jungen, der ihn quälte, aber er war im Nachteil, und der andere packte seinen Arm. Er fing an, ihn zu drehen.
    »Lass mich los«, keuchte Philip. »Du brichst mir den Arm.«
    »Dann zeig uns deinen Fuß.«
    Philip schluchzte laut auf. Der Junge drehte den Arm noch weiter herum. Der Schmerz war unerträglich.
    »Also bitte, dann tue ich es«, sagte Philip.
    Er streckte sein Bein heraus. Singer hielt immer noch Philips Handgelenk. Neugierig betrachtete er den verkrüppelten Fuß.
    »Abscheulich, nicht?«, meinte Mason.
    Ein anderer kam heran und schaute ebenfalls.
    »Pfui«, machte er und schüttelte sich.
    »Ja, ekelhaft«, sagte Singer. »Ist er hart?«
    Singer betastete ihn mit den Fingerspitzen, vorsichtig, als hätte der Fuß ein Eigenleben. Plötzlich war Mr.   Watsons schwerer Tritt auf der Treppe zu hören. Die Jungen warfen die Decken über Philip und schlüpften wie wilde Kaninchen in ihre Kojen. Mr.   Watson betrat den Schlafraum. Auf den Zehenspitzen stehend konnte er über die Vorhänge hinübersehen und schaute in einige von den Kojen hinein. Die kleinen Jungen lagen brav in ihren Betten. Er löschte das Licht und ging hinaus.
    Singer rief Philip, aber dieser antwortete nicht. Er hatte die Zähne in die Kissen verbissen und weinte lautlos. Er weinte nicht über den Schmerz, und auch nicht über die Demütigung, er weinte aus Wut über sich selbst, weil er, unfähig, den Schmerz länger zu ertragen, aus freien Stücken seinen Fuß gezeigt hatte.
    Und dann überwältigte ihn das Elend seines Daseins. Seinem kindlichen Sinn schien es gewiss, dass sein Unglück nie aufhören würde. Er erinnerte sich an jenen kalten Morgen, an dem ihn Emma aus dem Bett geholt und zu seiner Mutter gebracht hatte. Es war das erste Mal, dass er daran dachte, aber nun war ihm, als hätte er den warmen Körper seiner Mutter neben sich, als hielten ihre weichen Arme ihn umschlungen. Mit einem Mal schien es ihm, als wäre alles nur ein Traum, der Tod seiner Mutter, das Leben im Pfarrhaus und diese beiden unglückseligen Tage – als würde er am nächsten Morgen erwachen und wieder zu Hause sein. Bei diesem Gedanken versiegten seine Tränen. Er war zu unglücklich, es konnte nur ein Traum sein, seine Mutter lebte, und gleich würde Emma heraufkommen und zu Bett gehen. Er schlief ein.
    Aber als er am nächsten Morgen erwachte, schrillte das Läuten der Glocke in seinem Ohr, und das Erste, was er erblickte, war der grüne Vorhang seiner Koje.
    12
     
    Mit der Zeit verlor Philips verkrüppelter Fuß an Interesse. Er wurde hingenommen wie das rote Haar des einen oder die übermäßige Korpulenz des andern. Aber inzwischen war Philip furchtbar empfindlich geworden. Wenn er es irgendwie einrichten konnte, rannte er niemals, weil er wusste, dass sein Hinken dadurch auffälliger wurde. Er nahm einen ganz besonderen Gang an. Am liebsten stand er still und hielt den Klumpfuß, damit er unbemerkt bleibe, hinter dem andern verborgen. Und er lebte in ständiger Angst, irgendeine Anspielung auf sein Gebrechen hören zu müssen. Da er an den Spielen der andern nicht teilnehmen konnte, blieb ihm ihr Leben fremd; er interessierte sich nur äußerlich für sie; und er fühlte eine Schranke zwischen sich und ihnen. Manchmal schienen sie zu meinen, dass es seine Schuld sei, dass er nicht Fußball spielen konnte. Er war viel sich selbst überlassen. Er war ein mitteilsames Kind gewesen, aber allmählich wurde er schweigsam und begann über den Unterschied zwischen sich und den andern nachzudenken.
    Der größte Junge im Schlafsaal, Singer, entwickelte eine Abneigung gegen ihn, und Philip, klein und zart für sein Alter, musste so manches an schlechter Behandlung über sich ergehen lassen.
    Um die Mitte des Schuljahrs brach in der Schule eine wilde Leidenschaft für ein Spiel aus, das ›Nibs‹ genannt wurde. Dieses Spiel wurde zu zweit mit Füllerspitzen auf einem Tisch oder einer Bank

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