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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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Erfüllung geht, so wird es ihm zuteil. Darum sage ich euch: Ihr mögt im Gebete begehren, was immer es sei. Glaubt nur, dass ihr es erhaltet, so wird es euch zuteil.
    Sie machten keinen besonderen Eindruck auf ihn, aber zwei oder drei Tage später, an einem Sonntag, wählte sie der Kanonikus für seine Predigt aus. Sogar wenn Philip diese hätte hören wollen, wäre es unmöglich gewesen, denn die Jungen der Kings School saßen auf dem Chor, und die Kanzel stand an der Ecke des Querschiffes, so dass der Prediger ihnen den Rücken zuwandte. Auch war die Entfernung so groß, dass sich nur ein Mann mit guter Stimme und Kenntnissen der Redekunst auf dem Chor hätte verständlich machen können; die Kanoniker von Tercanbury waren allerdings schon immer eher ihrer Gelehrsamkeit wegen ausgewählt worden als aufgrund irgendwelcher Qualitäten, die in einer Kathedrale von Nutzen sein können. Aber die Bibelworte drangen – vielleicht weil er sie erst vor so kurzer Zeit gelesen hatte – klar an Philips Ohren, und plötzlich glaubte er, sie wären an ihn persönlich gerichtet. Beinahe die ganze Predigt hindurch dachte er über sie nach, und als er an jenem Abend zu Bett ging, suchte er im Evangelium noch einmal diese Stelle. Obgleich er blind glaubte, was er gedruckt sah, hatte er doch schon gelernt, dass es in der Bibel Stellen gab, die ganz klar etwas Bestimmtes aussagten, aber rätselhafterweise eine andere Bedeutung hatten. In der Schule gab es niemanden, mit dem er darüber sprechen mochte, und so behielt er die Frage für sich bis zu den Weihnachtsferien und wartete eine passende Gelegenheit ab. Endlich schien sie ihm gekommen. Es war nach dem Abendessen, und man hatte eben das Gebet beendet. Mrs.   Carey war damit beschäftigt, die Eier zu zählen, die Mary Ann wie gewöhnlich hereingebracht hatte, und jedes mit dem Datum zu versehen. Philip stand am Tisch und tat, als blätterte er gedankenlos in der Bibel.
    »Sag, Onkel William, bedeutet diese Stelle wirklich das, was hier steht?«
    Er zeigte mit dem Finger auf den Absatz, als wäre er ganz zufällig darauf gestoßen.
    Mr.   Carey schaute über seine Brille hinweg zu ihm hin. Er hielt die Blackstable Times vors Feuer. Sie war am Abend noch feucht von der Presse ins Haus gekommen, und der Vikar trocknete sie jedes Mal zehn Minuten lang, ehe er zu lesen anfing.

»Was für eine Stelle meinst du?«, fragte er.
    »Ach, die über den Glauben, der Berge versetzen kann.«
    »Wenn es in der Bibel steht, dann ist es auch so, Philip«, sagte Mrs.   Carey und nahm ihren Eierkorb zur Hand.
    Philip schaute seinen Onkel fragend an.
    »Es kommt auf den Glauben an.«
    »Wenn man also wirklich glaubt, dass man Berge versetzen kann, dann kann man es auch?«
    »Mit Gottes Gnade«, entgegnete der Vikar.
    »Sag deinem Onkel jetzt gute Nacht, Philip«, sagte Tante Louisa. »Heute wirst du doch keine Berge mehr versetzen wollen, oder doch?«
    Philip ließ sich von seinem Onkel auf die Stirn küssen und stieg, begleitet von Mrs.   Carey, die Treppen hinauf. Nun hatte er die Auskunft, die er brauchte. Sein Zimmer war eiskalt, und er schlotterte, als er sein Nachthemd überzog. Aber immer schien es ihm, als gefielen seine Gebete Gott mehr, wenn er sie unter unbehaglichen Bedingungen aufsagte. Die Kälte seiner Hände und Füße war ein Opfer an den Herrn. Heute sank er auf die Knie, vergrub sein Gesicht in die Hände und betete zu Gott mit aller Kraft und Inbrunst, er möge ihn von seinem Klumpfuß befreien. Verglichen mit dem Versetzen des Berges war das nur eine Kleinigkeit. Er wusste, dass Gott ihm helfen konnte, wenn Er wollte und wenn sein eigener Glaube stark genug war. Am nächsten Morgen, als er sein Gebet mit der gleichen Bitte abschloss, setzte er ein Datum fest, an dem das Wunder geschehen sollte.
    »Oh, lieber Gott, in Deiner großen Gnade und Güte, erhöre meine Bitte und mach, dass mein Fuß in der Nacht, ehe ich in die Schule zurückmuss, gesund wird.«
    Er war glücklich, sein Gebet auf diese Formel gebracht zu haben, und wiederholte es von neuem bei jeder Andacht, die der Vikar hielt. Am Abend sprach er es noch einmal, und dann wieder vor dem Schlafengehen, während er schauernd im Nachthemd vor seinem Bett kniete. Und er glaubte. Zum ersten Mal im Leben wünschte er das Ende der Ferien herbei. Er lachte in sich hinein bei der Vorstellung, wie erstaunt sein Onkel sein würde, wenn er ihn die Treppen hinunterlaufen und gleich zwei, drei Stufen auf einmal nehmen sah; und

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