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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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er.
    »Ich bin froh, dass ich ein bisschen sitzen kann.«
    Ihre Worte, mit all dem, was sich dahinter verbarg, rissen ihm das Herz entzwei, und es war grauenhaft mit anzusehen, wie sie sich wieder müde in den Stuhl sinken ließ. Das Schweigen dauerte so lange, dass Philip sich in seiner Verlegenheit eine Zigarette anzündete.
    »Es ist sehr lieb von dir, dass du mir nichts Unfreundliches gesagt hast, Philip. Ich dachte, du würdest mir wer weiß was an den Kopf werfen.«
    Er sah, dass sie wieder weinte. Er erinnerte sich, wie sie damals, als Emil Miller sie verlassen hatte, zu ihm gekommen war und bei ihm geweint hatte. Die Erinnerung an ihr Leid und an seine eigene Kränkung machte das Mitleid, das er nun mit ihr fühlte, umso tiefer.
    »Wenn ich nur davon loskäme!«, stöhnte sie. »Ich hasse es so. Ich passe nicht zu dem Leben, ich bin kein Mädchen dafür. Alles würde ich tun, wenn ich nur davon wegkönnte; ein Dienstmädchen könnte ich sein. Ach, ich wünschte, ich wäre tot.« Vor Selbstmitleid brach sie nun völlig zusammen. Sie schluchzte hysterisch, so dass ihr dünner Körper ganz erschüttert wurde.
    »Ach, du weißt ja nicht, was das heißt. Keiner weiß es, der es nicht selbst durchgemacht hat.«
    Philip war es unerträglich, sie weinen zu sehen. Ihre grauenvolle Lage – er fühlte sich wie auf der Folter.
    »Armes Kind«, flüsterte er, »armes Kind!«
    Er war tief bewegt. Plötzlich kam ihm eine Eingebung. Er war ganz hingerissen vor Glück.
    »Hör zu, wenn du wirklich gern damit aufhören möchtest – ich habe eine Idee. Ich bin zwar gerade furchtbar knapp bei Kasse und muss so sparsam wirtschaften wie nur irgend möglich, aber ich habe eine kleine Wohnung in Kennington, und da ist ein Zimmer frei. Wenn du willst, kannst du mit dem Kind dort wohnen. Ich zahle der Frau drei und einen halben Shilling die Woche, damit sie mir die Wohnung ein bisschen sauber hält und gelegentlich etwas kocht. Das könntest du übernehmen, und das Essen für dich kann nicht mehr kosten, als was ich an der Frau spare. Es kommt nicht viel teurer, für zwei als für einen zu wirtschaften, und die Kleine isst doch wahrscheinlich nicht viel.«
    Sie hörte auf zu weinen und sah ihn an.
    »Soll das heißen, dass du mich wirklich wieder aufnehmen willst, nach allem, was geschehen ist?«
    Philip wurde ein bisschen rot vor Verlegenheit, denn er wusste nicht, was er darauf sagen sollte.
    »Ich hoffe, du verstehst mich nicht falsch. Ich gebe dir nur das Zimmer, das mich ja nichts kostet, und das Essen. Ich erwarte von dir nicht mehr und nicht weniger, als was die Frau tut, die jetzt für mich arbeitet. Darüber hinaus will ich jedoch nichts von dir. Ich denke doch, dass du für den Zweck gut genug kochen kannst.«
    Sie sprang auf die Füße und wollte auf ihn zukommen.
    »Du bist zu gut zu mir, Philip.«
    »Nein, bitte bleib, wo du bist«, sagte er schnell und streckte dabei den Arm aus, als wollte er sie von sich wegschieben.
    Er wusste nicht warum, aber er konnte den Gedanken, dass sie ihn berührte, nicht ertragen.
    »Ich will dir nichts weiter sein als ein Freund.«
    »Du bist gut zu mir«, wiederholte sie. »Wirklich gut.«
    »Heißt das, dass du einziehen willst?«
    »Ach ja, ich täte alles, um hier wegzukommen. Du wirst das nie bereuen, Philip, nie. Wann darf ich kommen, Philip?«
    »Am besten morgen.«
    Plötzlich brach sie wieder in Tränen aus.
    »Um Himmels willen, warum weinst du denn nun schon wieder?«, sagte er lächelnd.
    »Ich bin dir so dankbar. Ich weiß nicht, wie ich das je vergelten kann.«
    »Das ist schon gut. Du gehst jetzt wohl am besten nach Hause.«
    Er schrieb ihr seine Adresse auf und sagte ihr, dass er sich bereithalten würde, wenn sie um halb sechs käme. Es war inzwischen so spät geworden, dass er zu Fuß nach Hause gehen musste. Aber der Weg kam ihm gar nicht lang vor, denn er war wie berauscht; es war ihm, als ginge er auf Wolken.
    91
     
    Am nächsten Morgen stand er frühzeitig auf, um das Zimmer für Mildred herzurichten. Er sagte der Frau, die ihn betreut hatte, dass er sie von jetzt ab nicht mehr brauche. Mildred kam gegen sechs. Philip hatte sie vom Fenster aus beobachtet und ging hinunter, um ihr aufzumachen und mit dem Gepäck zu helfen: Es bestand jetzt nur noch aus drei großen, in Packpapier verschnürten Paketen, denn sie hatte alles verkaufen müssen, was sie nicht unbedingt brauchte. Sie hatte das gleiche schwarze Seidenkleid an wie in der letzten Nacht, und obwohl sie jetzt

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