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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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so wundervoll anzuregen verstand.
    Plötzlich blieb ihm das Herz stehen. Er sah Mildred. Er hatte seit Wochen nicht mehr an sie gedacht. Sie überquerte die Straße an der Ecke Shaftesbury Avenue und blieb auf der Verkehrsinsel stehen, um eine Wagenreihe vorbeizulassen. Sie wartete, bis sie weitergehen konnte, und hatte für nichts anderes Augen. Sie trug einen großen schwarzen Strohhut mit einer Federgarnitur und ein schwarzes Seidenkleid; man trug in jener Zeit Schleppen. Die Straße war frei, und Mildred kam herüber, ihre Schleppe schleifte dabei auf dem Boden nach. Dann ging sie den Piccadilly hinunter. Philip folgte ihr mit aufgeregt klopfendem Herzen. Er hatte nicht den Wunsch, mit ihr zu sprechen, aber er wollte sehen, wohin sie in dieser späten Nachtstunde ging, und wollte gern einen Blick auf ihr Gesicht werfen. Sie ging langsam und bog in die Air Street ein. Er folgte ihr bis zur Regent Street. Dann ging sie wieder zum Circus zurück. Philip wusste nicht, was er daraus schließen sollte. Was mochte sie hier tun? Vielleicht erwartete sie jemanden? Er war neugierig zu erfahren, wer das sei. Sie ging an einem untersetzten Mann mit Melone vorüber, der langsam in der gleichen Richtung wie sie dahinschlenderte; sie warf ihm, als sie vorüberging, von der Seite aus einen langen Blick zu. Sie ging ein paar Schritte weiter bis zu Swan und Edgar, blieb stehen und wartete, mit dem Gesicht zur Straße gewandt. Als der Mann näher kam, lächelte sie ihn an. Der Mann starrte sie kurz an, drehte sich um und schlenderte weiter. Jetzt verstand Philip.
    Er war von Grauen überwältigt. Einen Augenblick lang fühlte er seine Beine so schwach werden, dass er kaum stehen konnte, dann ging er ihr schnell nach; er berührte sie am Arm.
    »Mildred.«
    Sie drehte sich mit einem erschrockenen Ruck um. Er glaubte bemerkt zu haben, wie sie rot wurde, aber man konnte in der Dunkelheit schlecht sehen. Eine Zeitlang standen sie einander gegenüber und sahen sich an, ohne zu sprechen. Schließlich sagte sie:
    »Nett, dich zu treffen!«
    Er wusste nicht, was er antworten sollte. Er war furchtbar erschüttert, und die Worte, die ihm in wilder Folge durch den Kopf jagten, kamen ihm unerträglich melodramatisch vor.
    »Das ist ja furchtbar«, keuchte er, als spräche er mit sich selbst.
    Sie sagte nichts, wandte sich von ihm ab und sah auf das Pflaster nieder. Er fühlte, wie sein Gesicht sich vor Jammer verkrampfte.
    »Können wir nicht irgendwohin gehen, wo wir miteinander reden können?«
    »Ich habe keine Lust zum Reden«, sagte sie mürrisch. »Kannst du mich denn nicht in Frieden lassen?«
    Ihm kam plötzlich der Gedanke, dass sie vielleicht so nötig Geld brauchte, dass sie es sich nicht leisten konnte, um diese Stunde von hier fortzugehen.
    »Ich habe ein paar Shilling bei mir, wenn du Geld brauchen solltest«, entfuhr es ihm rauh.
    »Ich weiß nicht, was du meinst. Ich ging hier gerade entlang, weil ich auf dem Heimweg zu meiner Wohnung bin. Ich dachte eigentlich, ich würde eines der Mädchen aus dem Laden treffen, wo ich arbeite.«
    »Lieber Gott, lüg doch jetzt nicht noch!«, sagte er.
    Dann sah er, dass sie weinte, und wiederholte seine Frage.
    »Wollen wir nicht irgendwohin gehen, wo wir miteinander reden können. Kann ich nicht zu dir nach Hause kommen?«
    »Nein, das geht nicht«, schluchzte sie. »Ich darf keine Herren in die Wohnung mitbringen. Wenn du willst, dann kann ich dich morgen treffen.«
    Er war sicher, dass sie eine Verabredung nicht einhalten würde. Er durfte sie nicht gehen lassen.
    »Nein. Du musst jetzt mit mir irgendwohin gehen.«
    »Ich wüsste schon ein Zimmer, aber sie verlangen sechs Shilling dafür.«
    »Das ist egal. Wo ist es?«
    Sie gab ihm die Adresse, und er rief eine Droschke. Sie fuhren zu einer schäbigen Straße hinter dem British Museum, in der Nähe von Grays Inn Road, und sie ließ den Wagen an der Ecke halten.
    »Sie sehen es nicht gern, wenn man vorfährt«, sagte sie.
    Es waren die ersten Worte, die sie miteinander sprachen, seit sie in die Droschke gestiegen waren. Sie gingen ein paar Schritte weiter, und Mildred klopfte dreimal kurz und scharf gegen eine Tür. Philip bemerkte bei dem Licht, das aus dem Fensterchen über der Tür fiel, dass ein Pappschild draußen hing, das ankündigte, hier seien Wohnungen zu vermieten. Die Tür wurde leise geöffnet, und eine ältliche, große Frau ließ sie hinein. Sie warf einen Blick auf Philip und sprach dann mit gedämpfter Stimme mit Mildred.

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