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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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wo er ja doch nicht wusste, wann er wieder zum Studium zurückkehren konnte. Er träumte ständig, wieder in den Krankensälen zu sein. Das Erwachen war schmerzlich. Das Gefühl, dass noch andere mit ihm in einem Zimmer schliefen, war ihm unglaublich unangenehm. Er war daran gewöhnt gewesen, allein zu sein, und es war schrecklich, immer mit andern zusammen sein zu müssen, keinen Augenblick für sich zu haben. Wenn ihm das wieder bewusst wurde, konnte er kaum gegen seine Verzweiflung ankämpfen. Er sah sich auf unabsehbare Zeit dieses Leben mit seinem ›Erst nach rechts. Zweites Stockwerk, links, gnädige Frau‹ fortsetzen, und dabei musste er noch dankbar sein, dass man ihn behielt: Die Männer, die in den Krieg gezogen waren, würden bald heimkommen, und die Firma hatte garantiert, sie wieder zu beschäftigen; das bedeutete, dass andere entlassen werden würden. Er musste sich anstrengen, um diesen jämmerlichen Posten, den er jetzt hatte, überhaupt zu behalten.
    Nur ein einziges Ereignis konnte ihn erlösen: der Tod seines Onkels. Dann würde er ein paar hundert Pfund in die Hand bekommen und so sein Studium zu Ende bringen. Philip begann mit aller Macht, den Tod des alten Mannes herbeizuwünschen. Er rechnete sich aus, wie lange er möglicherweise noch leben könnte; Philip wusste nicht, wie alt er genau war, aber er musste mindestens fünfundsiebzig sein; er litt an chronischer Bronchitis und hatte jeden Winter einen schlimmen Husten. Obwohl er es schon auswendig konnte, las Philip immer wieder alle Einzelheiten nach, die in seinem Lehrbuch über Aussichten von Bronchitis bei älteren Menschen standen. Ein strenger Winter könnte zu viel für ihn sein. Philip wünschte aus tiefstem Herzen Regen und Kälte herbei. Er dachte ununterbrochen daran, so dass es schon zu einer fixen Idee wurde. Auch große Hitze tat Onkel William nicht gut, und im August war es drei Wochen lang glühend heiß gewesen. Philip bildete sich ein, eines Tages werde vielleicht ein Telegramm kommen, dass der Vikar plötzlich gestorben sei, und er stellte sich seine unaussprechliche Erleichterung vor. Während er auf der obersten Treppenstufe stand und die Leute in die einzelnen Abteilungen dirigierte, dachte er unaufhörlich daran, was er mit dem Geld machen würde. Er hatte keine Ahnung, wie viel es sein würde, vielleicht nicht mehr als fünfhundert Pfund, aber selbst diese Summe würde genügen. Er würde das Geschäft sofort verlassen, ohne zu kündigen, er würde seine Sachen packen und sofort verschwinden, ohne jemandem ein Wort zu sagen; und dann würde er in sein Krankenhaus zurückkehren. Ob er wohl viel vergessen hatte? In sechs Monaten könnte er alles nachholen, und dann würde er so bald wie möglich seine drei Prüfungen ablegen, zuerst Geburtshilfe, dann innere Medizin und schließlich Chirurgie.
    Manchmal überfiel ihn eine furchtbare Angst, dass sein Onkel vielleicht doch, entgegen seinen Versprechungen, alles der Gemeinde oder der Kirche vermachen könnte. Philip wurde ganz elend bei diesem Gedanken. Er konnte nicht so grausam sein. Sollte dieser Fall jedoch eintreten, so war Philip fest entschlossen, Schluss zu machen; er konnte nicht ewig so weiterleben. Der jetzige Zustand war nur erträglich, weil man bessere Zeiten erhoffen konnte. Gab es keine Hoffnung mehr, würde er auch keine Furcht mehr kennen. Das einzig Mutige war in einem solchen Fall, Selbstmord zu begehen. Philip überlegte sofort, welch schmerzloses Mittel er wählen und wie er es sich verschaffen konnte. Der Gedanke machte ihm Mut, dass er einen Ausweg hatte, falls alles unerträglich wurde.
    »Zweiter Stock rechts, Madam, und die Treppen hinunter. Erst links und dann geradeaus. Mr.   Philips, vorwärts bitte.«
    Einmal monatlich hatte Philip eine Woche lang ›Dienst‹. Dann musste er bereits um sieben Uhr früh in seine Abteilung gehen und das Putzpersonal beaufsichtigen. Wenn sie fertig waren, musste er die Leinwandtücher von den Regalen und den Modellpuppen abnehmen. Am Abend, wenn die Ladengehilfen gegangen waren, hatte er die Tücher wieder auf Regale und Modelle aufzulegen und die Auskehrer zu überwachen. Es war staubige, schmutzige Arbeit. Er durfte weder lesen noch schreiben oder rauchen; er musste in einem fort umhergehen, und die Zeit wurde ihm lang. Wenn er um halb zehn fertig war, bekam er sein Abendessen, und das war der einzige Trost, denn seit dem Tee um fünf Uhr hatte sich ein gesunder Appetit eingestellt, und Brot und Käse mit

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