Der Menschen Hoerigkeit
allfällige Geldstrafen. Mit dem, was übrigblieb, ging er dann in seine Abteilung zurück und wartete dort, bis es Feierabend war.
Die meisten Männer in Philips Haus hatten Schulden bei der Frau, bei der sie die Brötchen kauften. Sie war ein komisches altes Ding, sehr dick, mit breitem, rundem Gesicht und schwarzem Haar, an beiden Seiten der Stirn glatt gekämmt, in der Art, wie es frühe Bilder von Königin Victoria zeigen. Sie trug immer einen kleinen, schwarzen Hut und eine weiße Schürze; ihre Ärmel waren bis zu den Ellbogen aufgekrempelt; sie schnitt die Brötchen mit großen, schmutzigen, fetten Händen; Fett war auf ihrem Mieder, Fett war auf ihrer Schürze, Fett war auf ihrem Rock. Sie hieß Mrs. Fletcher, aber jedermann nannte sie ›Ma‹; sie hatte die Ladengehilfen wirklich gern und nannte sie ihre Jungen; es machte ihr nichts aus, ihnen gegen Ende des Monats Kredit zu gewähren, und man wusste, dass sie dem einen oder anderen auch Geld lieh, wenn er sich in einer Klemme befand. Sie war eine gute Frau. Wenn sie auf Urlaub gingen oder zurückkamen, küssten die Jungen ihre fette rote Wange; wurde mal einer entlassen und konnte keinen anderen Posten finden, versorgte sie ihn mit Nahrung, um Leib und Seele zusammenzuhalten. Die Jungen erkannten ihr weiches Herz und dankten ihr mit echter Zuneigung. Eine Geschichte erzählte sie gerne: von einem Mann, der in Bradford zu Geld gekommen war und dort fünf Geschäfte besaß und nach fünfzehn Jahren zurückgekommen war, um Mrs. Fletcher zu besuchen und ihr eine goldene Armbanduhr zu schenken.
Philip blieben von seinem Monatsgehalt nach allen Abzügen achtzehn Shilling. Es war das erste Geld in seinem ganzen Leben, das er selbst verdient hatte. Es gab ihm keinerlei Gefühl des Stolzes, wie man es vielleicht hätte erwarten können, sondern bestürzte ihn eher. Die Geringfügigkeit der Summe unterstrich nur die Hoffnungslosigkeit seiner Lage. Er trug fünfzehn Shilling zu Mrs. Athelny als Abzahlung auf die Schuld bei ihr; aber sie wollte nicht mehr als zehn Shilling nehmen.
»Wissen Sie, dass ich dann acht Monate brauche, um meine Schuld bei Ihnen zu begleichen?«
»Solange Athelny Arbeit hat, kann ich gut und gerne warten, und wer weiß, vielleicht bekommen Sie eine Gehaltserhöhung.«
Athelny redete immerzu davon, dass er Philips wegen mit dem Leiter sprechen wolle; es war doch blanker Unsinn, dass Philips Talente brachliegen sollten. Aber er unternahm nichts, und Philip sagte sich schließlich, dass der Presseagent wahrscheinlich in den Augen des Leiters nicht die gleiche Wichtigkeit besaß wie in seinen eigenen. Gelegentlich begegnete er Athelny im Geschäft. Sein Glanz war erloschen, er eilte in sauberer, ganz alltäglicher Kleidung durch die Abteilungen: ein unterwürfiges, bescheidenes Männchen, das ängstlich bedacht schien, nirgends aufzufallen.
»Wenn ich mir so überlege, wie unnütz ich da meine Kraft vergeude«, sagte er zu Hause, »dann möchte ich am liebsten meine Kündigung einreichen. Kein Spielraum für Menschen wie mich. Ich verkümmere, ich verhungere.«
Mrs. Athelny, die ruhig nähte, schien diese Klagen gar nicht zu beachten. Ihre Lippen pressten sich etwas fester aufeinander.
»Es ist heutzutage sehr schwer, Arbeit zu finden. Es ist regelmäßig und sicher. Ich erwarte von dir, dass du aushältst, solange man mit dir zufrieden ist.«
Und Athelny würde das auch tun. Es war interessant zu sehen, welchen Einfluss diese ungebildete Frau über den geistvollen, unausgeglichenen Mann, der rechtlich nicht mit ihr verbunden war, erlangt hatte. Mrs. Athelny behandelte Philip mit der gleichen mütterlichen Güte, jetzt, wo er in ganz anderer Lage war als zuvor. Ihre Besorgnis, dass er auch ja gut essen solle, rührte ihn. Es war der einzige Trost in dieser Art von Leben (und als er sich daran gewöhnt hatte, war es hauptsächlich die Monotonie, die ihm zu schaffen machte), dass er jeden Sonntag in dieses freundliche Haus gehen konnte. Es war eine Freude für ihn, in den prunkvollen spanischen Stühlen zu sitzen und alle möglichen Dinge mit Athelny zu bereden. Obwohl seine Lage so verzweifelt war, ging er nie von ihm fort, ohne sich wie berauscht zu fühlen. Zuerst hatte Philip versucht, weiter in seinen medizinischen Büchern zu lesen, damit er nicht alles verlernte; aber er fand es ein sinnloses Unterfangen, er konnte sich nach der erschöpfenden Arbeit nicht konzentrieren; es schien auch so hoffnungslos weiterzulernen,
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