Der Menschen Hoerigkeit
großen Mengen Kakao, den die Firma für diesen Zweck bereitstellte, boten eine willkommene Mahlzeit.
Nachdem Philip drei Monate lang bei Lynn gearbeitet hatte, kam eines Tages Mr. Sampson, der Einkäufer, in die Abteilung. Er schäumte vor Wut. Der Leiter, der zufällig im Vorübergehen das Kostümschaufenster gesehen hatte, hatte den Einkäufer zu sich berufen und höhnisch die Farbenkombinationen kritisiert. Da er den Sarkasmus seines Vorgesetzten schweigend hatte hinnehmen müssen, rächte er sich nun an seinem Gehilfen. Er schalt den armen Kerl, der das Fenster zu dekorieren hatte, heftig aus.
»Wenn man etwas ordentlich gemacht haben will, muss man es selbst tun«, tobte Mr. Sampson. »Das habe ich immer gesagt, und es bewahrheitet sich immer wieder. Nichts kann man euch Lümmeln überlassen. Sie wollen intelligent sein, nicht wahr? Ja, intelligent!«
Er warf dem Gehilfen das Wort hin, als wäre es der schlimmste Vorwurf.
»Wissen Sie denn nicht, dass ein Stahlblau im Fenster alles andere Blau einfach erschlägt?«
Er schaute sich wild in der Abteilung um, und sein Blick fiel auf Philip.
»Am nächsten Freitag werden Sie das Schaufenster dekorieren, Carey. Wollen doch mal sehen, was Sie daraus machen.«
Er ging in sein Büro zurück und brummte unterwegs wütend vor sich hin. Philip sank das Herz. Als er am Freitagmorgen in das Schaufenster steigen musste, würgte ihn die Scham. Seine Wangen glühten. Es war fürchterlich, sich den Passanten zur Schau stellen zu müssen. Obwohl er sich sagte, es sei lächerlich, solchen Empfindlichkeiten nachzugeben, kehrte er der Straße den Rücken zu. Die Wahrscheinlichkeit, dass um diese Zeit einer seiner Kollegen aus dem Krankenhaus die Oxford Street entlangkäme, war sehr gering, und sonst kannte er kaum jemanden in London. Aber während Philip mit einem schrecklichen Kloß im Hals weiterarbeitete, bildete er sich die ganze Zeit ein, er bräuchte sich nur umzudrehen, um in ein bekanntes Gesicht zu starren. Er beeilte sich, sosehr es nur ging. Durch die einfache Beobachtung, dass Rot in allen Farbtönen gut zusammenpasst, und mit Hilfe einer neuen, etwas großzügigeren Art, die Kostüme auszulegen, erzielte er eine sehr gute Wirkung. Als der Einkäufer dann auf die Straße hinausging, um sich das Ergebnis anzuschauen, war er augenscheinlich sehr befriedigt.
»Ich hatte mir schon gedacht, dass es richtig wäre, Sie das Fenster machen zu lassen. Es kommt eben daher, dass wir beide, Sie und ich, Gentlemen sind. Ich würde das natürlich nicht vor den andern sagen, aber es stimmt. Sie und ich, wir sind eben Gentlemen, und das merkt man sofort. Es hat keinen Zweck, wenn Sie mir sagen, man merke das nicht; man merkt es sehr wohl.«
Philip wurde jetzt beauftragt, diese Arbeit regelmäßig zu übernehmen, aber er konnte sich an diese Art Öffentlichkeit nicht gewöhnen. Jedes Mal graute ihm vor dem Freitagmorgen, an dem die Fenster zu dekorieren waren. Er wachte vor Schreck schon früh um fünf auf und lag schlaflos und mit einem elenden Gefühl in seinem Bett. Die Mädchen in seiner Abteilung merkten, dass er sich schämte, und durchschauten seinen Trick sehr bald, mit dem Rücken zur Straße gewandt zu arbeiten. Sie lachten ihn aus und nannten ihn ›Prinzchen‹.
»Sie haben wohl Angst, dass Ihre Tante vorbeikommen und Sie enterben könnte.«
Im Allgemeinen kam er mit den Mädchen ganz gut aus. Sie fanden ihn ein wenig sonderlich; aber der Klumpfuß entschuldigte in ihren Augen, dass er ein bisschen anders war als die Übrigen. Auch merkten sie bald, dass er sehr gutmütig war. Er half, wo er nur konnte, er war höflich und ausgeglichen.
»Man merkt, dass er ein Gentleman ist«, sagten sie.
»Sehr zurückhaltend, nicht?«, sagte eine junge Frau, deren leidenschaftlich begeisterten Theaterberichten er ungerührt zugehört hatte.
Die meisten hatten ›Freunde‹, und die, die keine hatten, taten trotzdem so. Es brauchte niemand zu denken, dass sich keiner für sie interessierte. Die eine oder andere ließ Philip merken, dass sie nichts gegen einen Flirt mit ihm einzuwenden hätte. Er sah ihren Manövern mit ernsthafter Belustigung zu. Er hatte genug von Liebeleien; seine Erfahrungen reichten ihm. Und er war fast immer müde und oft hungrig.
106
Philip machte einen großen Bogen um alle Orte, die er aus glücklicheren Zeiten kannte. Die kleinen Zusammenkünfte in der Taverne in der Beak Street fanden nicht mehr statt. Macalister ging, nachdem er seine
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