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Der Menschen Hoerigkeit

Der Menschen Hoerigkeit

Titel: Der Menschen Hoerigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Somerset Maugham
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ihrer ganzen Nacktheit zu sehen, die er dort vermutete.
    Die zwei Ferienwochen vergingen schnell, und Philip kehrte nach London zurück. Er verbrachte den August, vor Hitze fast vergehend, hinter seinem Wandschirm in der Kostümabteilung und zeichnete in Hemdsärmeln. Die Gehilfen gingen abwechselnd in die Ferien. Abends erholte sich Philip meist im Hyde Park und hörte der Musik zu. Die Arbeit ermüdete ihn jetzt weniger, wo er sich an sie gewöhnt hatte. Sein Geist erholte sich von langer Dumpfheit und suchte nach neuer Tätigkeit. All sein Wünschen galt dem Tod seines Onkels. Immer wieder träumte er den gleichen Traum: Eines Morgens würde ihm in der Früh ein Telegramm ausgehändigt, das ihm mitteilte, der Vikar sei plötzlich verschieden. Freiheit war wieder in Reichweite. Wenn er dann erwachte und erkennen musste, dass es nur ein Traum war, empfand er eine finstere Wut. Jetzt, wo das Ereignis jeden Augenblick eintreten konnte, beschäftigte er sich mit bis ins Einzelne ausgearbeiteten Zukunftsplänen. Er überflog das Jahr, das ihn noch von seiner Approbation trennte, und verweilte auf seiner Spanienreise, der seine ganze Sehnsucht galt. Er las Bücher über Land und Leute, die er sich aus den Büchereien entlieh. Durch die Bilder wusste er bereits ganz genau, wie jede einzelne Stadt aussah. Er sah sich bereits in Córdoba, wo er über die Brücke hinschlenderte, die den Guadalquivir überspannte. Er wanderte in Toledo durch gewundene Straßen und saß in Kirchen, wo er El Greco das Geheimnis entrang, das dieser seltsame Maler, wie er sicher fühlte, für ihn bereithielt. Athelny machte mit, sonntagnachmittags arbeiteten sie ganz genaue Reisepläne aus, damit Philip ja nichts von all dem Sehenswerten entginge.
    Um seine Ungeduld zu überlisten, fing Philip an, Spanisch zu lernen. Jeden Abend saß er eine Stunde lang in dem verlassenen Wohnzimmer in der Harrington Street, übte Spanisch und tüftelte, mit Hilfe einer englischen Übersetzung, an den prächtigen Sätzen des Don Quixote herum. Athelny gab ihm wöchentlich eine Stunde, und Philip lernte von ihm ein paar Sätze, die ihm auf der Reise behilflich sein sollten. Mrs.   Athelny lachte sie aus.
    »Ihr beiden mit eurem Spanisch«, sagte sie. »Fällt euch denn nichts Nützlicheres ein?«
    Sally aber, die erwachsen wurde und zu Weihnachten erstmals das Haar aufstecken wollte, stand manchmal daneben und hörte in ihrer ernsten Art zu, wie ihr Vater und Philip Bemerkungen in einer Sprache miteinander tauschten, die sie nicht verstand. Sie hielt ihren Vater für den wundervollsten Menschen, den es überhaupt gab; ihre Meinung über Philip drückte sie nur durch Zitate ihres Vaters aus.
    »Vater hält sehr viel von eurem Onkel Philip«, bemerkte sie ihren Geschwistern gegenüber.
    Thorpe, der Älteste, war alt genug, um an Bord der Arethusa zu gehen. Sein Vater malte der Familie aus, was für eine großartige Figur der junge Bursche machen würde, wenn er in Uniform für die Ferien nach Hause käme. Sally sollte, sobald sie ihr siebzehntes Jahr erreicht hatte, zu einer Schneiderin in die Lehre kommen. Athelny sprach in seiner rhetorischen Art von den Vögeln, die nun flügge würden und das elterliche Nest verlassen könnten. Er sagte ihnen mit Tränen in den Augen, dass dieses immer für sie bereitstehen würde, wenn es sie dahin zurücktrieb. Ein Lager und ein Essen wären immer für sie da, und das Herz eines Vaters würde ihren Nöten nie verschlossen sein.
    »Da redest du«, sagte seine Frau. »Ich wüsste nicht, was für Nöte ihnen drohen könnten, solange sie ordentlich sind. Solange man ehrlich ist und sich vor keiner Arbeit scheut, findet man immer eine Stelle, das ist meine Meinung; und das kann ich wohl sagen, es wird mir nicht leicht ums Herz sein, wenn einmal der Letzte auf eigenen Füßen steht und sich sein tägliches Brot selbst verdient.«
    Die vielen Geburten, schwere Arbeit und beständige Sorgen waren nicht ohne Spuren an Mrs.   Athelny vorübergegangen. Abends schmerzte sie oft ihr Rücken, so dass sie sich hinsetzen und ausruhen musste. Ihr Traum war es, ein Mädchen zu haben, das ihr die grobe Arbeit abnahm, damit sie nicht vor sieben Uhr aufzustehen brauchte. Athelny machte eine schwungvolle Bewegung mit seiner schönen weißen Hand.
    »Ach, meine Betty, der Staat ist uns wirklich zu Dank verpflichtet, dir und mir. Wir haben neun gesunde Kinder aufgezogen, und die Jungen werden ihrem König dienen; die Mädchen sollen kochen und

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